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Merger Anzeiger und . — .—— Tageblatt. Amtsblatt des Kgl. Bezirksgerichts zu Freiberg, sowie der Kgl. Gerichtsämter u. der Stabträthe zu Freiberg u. Brand. 274. Erscheint s. Freiberg jed.Wochent.Ab. KU. für den and.Tag. Jnser. werden bi« V. 11 U. für nächste Nr. angen. Dienstag, 26. November. Preis »ierteljjhrl, 2V Ngr. Inserate werden die gespaltene Zeile oder deren Raum mit 1 Ngr. berechnet. 1872. Römlinge — ist es darum noch nicht als Bürger, und dämm muß der Staat nicht nur die Leitung der Volksschule übernehmen, sondern auch die Bildung der Lehrer zu seiner eigenen Sache machen. Von diesem Gesichtspunkte ging unsere zweite Kammer bei ' Berathung des Schulgesetzes aus; die erste vom entgegengesetzten. Derselbe principielle Zwiespalt findet sich bei allen wesentlichen Punkten des Gesetzes. Nach der zweiten Kammer soll die Gemeinde zur Wahl des Lehrers berechtigt sein; die erste Kammer erklärt die Gemeinde für unfähig dazu und stellt somit der Intelligenz unserS sächsischen Volkes ein Zeugniß aus, als ob es an Bildung hinter den Wasserpolaken Oberschlesiens zurückstehe. Unsere Regierung — oder vielleicht sagen wir richtiger: unser Kultusminister theilt diesen Standpunkt der ersten Kammer I Was wird nun aus dem Schulgesetze werden? Wir fürchten Nichts und alle übrigen Reorganisationsgesetze fallen mit ihm. Die Krisis, welche in Preußen mit einer Nieder lage des Herrenhauses enden wird, tritt auch an Sachsen heran. Aufgabe des sächsischen Volkes ist es jetzt, aller Orten laut und vernehmlich durch Petitionen zu bekunden, auf wessen Seite es siehe'. Die zweite Kam mer muß unterliegen, wenn ihr diese Unterstützung versagt wird. Siegen aber unsere Senfft-Pilsach- und Kleist-Retzow's in der Person des Herrn v. Erdmannsdorf und Genossen, dann wird unser Land auf Jahre hinaus in seiner Kultur-Entwicklung gehemmt. Im preußischen Abgeordnetenhause wird jetzt die Kreis- ordnung nochmals berathen. Ihre Annahme gilt als sicher. Außerdem sind die Staatsbehörden vollauf mit dem Nothstande beschäftigt, welchen der bekannte Sturm an den Nordgestaden ange richtet und wodurch 4000 Menschen ihres Habes und Gutes ent kleidet wurden. In Baiern spielte sich in den letzten Tagen eines jener Spektakel-Stücke ab, die jetzt so oft unter der Maske der Frömmig keit zu Nutz und Frommen einzelner Gauner betrieben werden. Jetzt erst, nachdem die Katastrophe hereingebrochen und die fromme Fräulein Spitzeder als geniale Gaunerin entpuppt ist, wird es ersichtlich, wie viel Thorheit, Aberglaube, aber auch wie viel Hab gier in diesem von den Ultramontanen am Gängelband geführten Volke lebt. Ueber Tausende von Menschen ist unsägliches Elend gebracht. Aber größer noch wird der moralische Schaden sein, welcher von der sogenannten „Dachauer Bank" der Spitzeder auS- ging. Man muß sich nur vorstellen, welche Mafien ehedem fleißiger Arbeiter und Dienstboten, nachdem sie ihre Ersparnisse der Spitzeder übergeben, von den horrenden Zinsen sich dem Wohlleben und der Faulheit überließen, von denen wahrscheinlich nur der kleinere Theil zum ordentlichen Leben zurückkehrt. Der Lebensgang der Aben teuerin, die all' das Unheil verschuldet, wird zweifelsohne demnächst vor dem Schwurgericht und. im Zuchthause enden. Der Kaiser von Oesterreich ist nach Wien zurückgekehrt. Bekanntlich war er jetzt längere Zeit in Ungarn. Allgemein wird versichert, daß seine Anwesenheit mit der Wahlreformfrage zusammenhänge. Die betreffende Vorlage soll dem Reichsrathe sofort nach seinem Zusammentritte, der jedenfalls in der erste« Hälfte nächsten Monats erfolgt, zugehen. Die czechischm Blätter gerathen darüber natürlich außer Rand und Band. Die „Politik" erklärt, die Wahlreform werde niemals Gesetzeskraft erlangen; die „Narodni Listy", ein Organ der Jungczechen, scheint den letzten Rest von Besinnung verloren zu haben, denn es sagt u. A.: „Erst daS Königreich Böhmen hat den verschiedenen inner-österreichischen Ländern eine Staatsform im mittleren Europa gegeben, und wenn wir von diesen „Ländchen" dafür irgend welche Dankbarkeit forde«! oder den Beweis ihrer geschichtlichen, staatsrechtlichen und stnamMB „Unterthänigkeit" führen wollten, könnten wir sie auffoÄM^M 4- Freiberg, den 25. November 1872. Alle constitutionellen Länder Europas sehen gegenwärtig ihre Parlamente versammelt, um Gesetze und Einrichtungen zu schaffen, die dem Geiste der Zeit und dem Bedürfniß der Völker ent sprechen. Nicht überall findet man die Einigkeit zwischen Negie rung und Volksvertretung, welche nöthig ist, um das Ziel gesetz geberischer Reform zu erreichen. Meist sind es jedoch die ersten Kammern, welche den Hemmschuh bilden. So in Preußen, so in Sachsen. Die Krisis, hervorgerufen durch das preußische Herren haus mit Verwerfung der Kreisordnung, ist hinlänglich bekannt; dort geht die Regierung mit dem Abgeordnetenhause Hand in Hand und deshalb ist Hoffnung vorhanden, daß junkerlicher Wider stand das Werk der Reorganisation nicht dauernd hindern werde. Leider liegen bei uns die Sachen anders. Unsere Negierung legte dem Landtage eine Reihe organischer Gesetzentwürfe vor, von denen der Minister des Innern schon am Beginn der Session äußerte, daß sämmtliche Gesetze mit einander stehen oder fallen. Es liegt dies in der Natur der Sache. Die Behörden-Organisation läßt sich ohne Annahme der revidirten Gemeinde-Ordnungen nicht durch führen; das Schulgesetz, das Confistorialgesetz^u. s. w., Alles steht in einem inneren Zusammenhänge. Und fällt eins dieser Gesetze, so sind damit auch die übrigen verworfen. Bis jetzt passirte das Schulgesetz die Berathung beider Kammern. Aber in weich' verschiedener Gestalt gingen sie daraus hervor? Du lieber Him mel, Tag und Nacht können nicht greller abstechen, als die Be schlüsse der zweiten und ersten Kammer. Es gehört wahrhaftig wenig Verständniß der Zeit dazu, um einzusehen, daß die zweite Kammer durchaus keine übertriebenen Forderungen stellte, indem sie beispielsweise den Einfluß der Kirche nur auf den Religions unterricht beschränkte und dem Staate die Leitung und Aufsicht über die Volksschule anvertraute. So ist's in Preußen, in Baden, in einer Menge anderer Länder und so sollte es in Sachsen wer den. Die erste Kammer ist anderer Meinung! Nach ihr gehört die Schule der Kirche und muß ihr unterworfen bleiben! Es ist ein oft ausgesprochenes Wort, die Volksschule sei eiue Tochter der Kirche und wir wollen demselben eine gewifie Berech tigung durchaus nicht bestreiten. Aber die Kirche hat eben die Volkserziehung nur so lange in Anspruch nehmen können, als der Staat seiner eigenen Pflicht sich nicht erinnerte und durch mittel alterlich feudale oder modern absolutistische Ideen verhindert war, die lebendige Staatsmitgliedschaft aller Volksgenossen im Auge zu behalten und durch die geeigneten pädagogischen Mittel zu ermög lichen. Große Fürsten haben aber auch in den Zeiten der Feudal- und Cabinets-Politik, wo der Kriegsmann im Felde, der Canzler am Schreibtisch und der Priester in seiner Klause erzogen wurde, des hohen Berufs gedacht, der Allgemeinheit ein höheres Maaß von Bildung zuzuwenden; und seit die Regierungen in Folge der ' großen Staatsumwälzungen des letzten Jahrhunderts gelernt haben mit dem sogenannten dritten Stande zu rechnen und sich auf dem Wege des Constitutionalismus einem höheren und humaneren Stäatsbilde zuzuwenden, ist auch der Vater Staat nicht selten sehr energisch neben die Mutter Kirche getreten und hat summa 8uwm»rum für die Tochter Volksschule, wenn auch nicht Alles und genug, doch in kurzer Zeit mehr als jene und so viel gethan, daß sein Hausrecht in der Schule, ganz abgesehen von seinem obersten E^iehungsrechte, auch aus diesem Grunde ein der Kirche überlegenes ist. Die Kirche will ihrer Idee nach gottesfürchtige und ihres Glaubens gewifie Christen heranbilden, der Staat treue und brauchbare Bürger. Wer für die Kirche brauchbar oder nach ihren Vorstellungen treu ist — man denke nur an die agitatorischen