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»88 wenn sich die Verhältnisse in den angedeuteten beiden Richtungen hin «eiter entwickelten, unver meidlich sein mußte. Der AuSgang der Warschauer Monarchestcon- ferenz hat aber Europa eine große Beruhigung gewährt, indem Preußen und Oesterreich zur Freude von ganz Deutschland vereint erklärt haben, dem bevorstehenden türkisch-russischen Kriege gegenüber neutral bleiben zu wollen, d. h. von aller und jeder Einmischung in den leidigen Streit absehen zu wollen. Ja, Oesterreich hat diese seine Er klärung überdieß noch mit einem großartigen FriedenSacte bethätigt, indem es angesichts der türkischen Kriegserklärung eine umfängliche Re- duction seines Heeres angeordnet und bereits aus geführt hat. Wenn alle Mächte diesem in der Geschichte beinahe noch nicht vorgekommeneu Bei spiele wahrhaften Muthes nachfolgten, wenn Ruß land seine Armeecorps auf den FriedeuSfuß brächte, wenn die Türkei ihre Redifs (Landwehr) nach Hause schickte, wenn England seine Dreidecker abtakelte und in die Docks führte und Frankreich seine Mannschaften beurlaubte — gewiß der Friede würde sehr bald auf dauernder Grundlage be festigt sein. Die Annahme des Nichteinmischungsgrund. satzeS ist unter den obwaltenden Umständen lür Oesterreich und Preußen wie für ganz Deutsch land, so weit menschliche Berechnung reicht, die einzig gesunde und heilsame Politik. Man ver gegenwärtige sich nur einmal die Lagen, in weiche beide deutsche Großstaaten und mit ihnen das übrige Deutschland kommen mußten, hätten sie eine andere Politik einschlagen wollen. Wären nämlich jene in ein Bündniß mit Rußland getre ten, so war ein Angriff der Franzosen zu Lande in Italien und auf die preußischen Rheinland« zu besorgen, während die Engländer nicht gesäumt haben würden, die deutschen Häfen und die Mün dungen der großen Flüsse Deutschlands zu blockt- reU und den deutschen Exporthandel, wovon die Blüte und da» Gedeihen unserer Industrie ab hängt, von Grund aus zu ruiniren. Wären sie andererseits vielleicht mit England für die Türkei aufgetreten, so war bei der zweideutigen und un sicher» Politik des KabinelS von Paris zu fürch ten, daß Frankreich mit Rußland Hand iy Hand gehen möchte, in welchem Falle ein Angriff Frank reichs auf Italien und Deutschland ebenfalls zu erwarten stand. Rechnet man überdies noch hin zu, daß Oesterreich auf seine schwierigen Geld- Verhältnisse dringende Rücksicht zu nehmen hatte, so liegt auf der Hand, daß die Neutralität wenig stens für Oesterreich beinahe durch eine zwingende Nothwendigkeit geboten war. Preußen aber konnte in dieser Frage keine andere Politik einschlagen, al» Oesterreich, noch abgesehen davon, daß jenes im Driente keine unmittelbaren Interessen zu schützen hat. . . Nach den unerfreulichen Erfahrungen der letz ten Jahre ist bei der eingenommenen Stellung Preu ßens und Oesterreichs insbesondere auch Das eine sehr ermuthigende Erscheinung, daß wir die beiden deutschen Großstaaten in einer unbestreitbar wich tigen Frage und dem Ausland« gegenüber in völ- liger Uebereinstimmung handeln sehen. Die alte, fast traditionell gewordene Eifersucht zwischen Oesterreich und Deutschland scheint zum Glücke Deutschlands immer mehr zu schwinden. Eine andere Wahrnehmung, welche uns der gegenwär tige Stand der orientalischen Angelegenheiten machen läßt, besteht darin, daß die bedeutsame Weltstellung Deutschlands hierbei einmal wieder recht deutlich hervorgetreten ist. Preußen und Oesterreich sind vereint als die Vorortsstaaten und als die Vertreter Deutschlands bei den großen Welthändeln zu betrachten. Die Stellung der beiden deutschen Großstaaten in der orientalischen Frage ist mithin auch Diejenige Deutschlands. Nun springt aber auf den ersten Blick in die Augen, daß das moralische und materielle lieber- gewicht und somit die Wahrscheinlichkeit des Sieges für die weitere Entwickelung der großen Krisis auf der Seite gelegen haben würde, wohin sich die beiden deutschen Großstaaten gewendet haben würden. Traten sie auf Rußlands Seite, so mußte sich, trotz der von England und Frankreich aus. gehenden Gegenwirkung^ das Schicksal der Türkei schon jetzt erfüllen. Traten sie für die Türkei auf und vereinigten sie sich mit England, so würde Rußland, wenn es auch von Frankreich unterstützt worden wäre, von der Durchführung seiner erho benen Ansprüche sicherlich sehr bald abgesehen haben. Die letzte Entscheidung in der großen Frage, an welcher ganz Europa so lebhaft interesstrt ist, wird auch, sei eS nun mit der Feder oder mit dem Schwerte, dadurch herbeigeführt werden, daß Deutschland endlich doch noch das Gewicht seines Machteinflusses in die eine oder die andere Wag- schaale wirst. Politische Wochenschau. Deutschland. Wien, 19. October. Das Dampfschiff ist in Triest eingetroffen und bringt Nachrichten auS Konstantinopel vom 10. Octbr. Nach denselben ist die englische und französische Flotte noch nicht eingelaufen, jedoch soll die Pforte dieselben für den. Fall einer negativen Antwort des Fürsten Gortsthakoff erbeten haben. Der englische Ge- sandte Lord Stratfort und der französische Ge sandte de la Eour trachten eifrig zu vermitteln. An der griechischen und persischen Grenze wird ein BeobachtungScorps aufgestellt. Ein neuer griechischer Patriarch, AnthimoS, ist gewählt. Der türkische Botschafter, Arif Effendi, hat tu