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Ke ilage zum Glbeblatt. 3. Der Dorfarzt. Nach dem Französischen der Madame »Ärbouville über- sept von Dr. W. Schlesinger. (Fortsetzung.) „Lady Marie,, die, als ein Weib, sich selbst zu beherr schen »erstand. hatte ihre Freude verborgen, als Kamilen- zwistigkeiten ihren Sohn zum künftigen Erben ihres Schwa ger» gemacht, noch besser verbarg sie ihren Aerger und ihren Zorn, als Eva Meredith, oder vielmehr Eva Kifiing- ton, sich mit ihrem Schwiegervater auSgesöhnt hatte. Die Marmorstirne der Lady Marie blieb eindruckslos , allein, welche niedrige Leidenschaften mochten wohl ihr Her» schwel len unter diesem Anschein der Ruhe! „Ich stand also auf der Thürschwelle, als der Wagen von Eva Meredith (ich werde fortfahren, sie mit die>em Namen zu bezeichnen) in de» Hof des Gebäudes einfuhr. Eva reichte mir lebhaft die Hand hin. „Danke, danke, mein Freund!" stammelte sie. Sie trocknete die Thränen ab, die in ihren Augen zitterten, und, ihr Kind an der Hand fürend, ein Kind von drei Jahren, schön wie ein Engel trat sie ein in ihre neue Wohnung. „Ich habe Furcht," sagte sie zu mir. Sic war noch immer jene schwache Frau, vom Unglücke niedergebeugt, blaß, traurig und schön, die an die Hoffnungen der Erde wenig Glauben hatte und mit Gewißheit nur auf die Güter des Himmels zählte. Ich ging ihr zur Seite, und während sie, noch immer in Trauer gehüllt, die ersten Stufen der Treppe hinaufging/ ihre sanfte Gestalt von Thränen benetzt, ihr dünner und schwacher Leib gegen das Geländer gebeugt, mit Ihrem ausgestreckten Arme das Kind an sich ziehncd, welches noch langsamer, als sie, ging, zeigten sich Lad» Marie und ihr Sohn oben auf der Treppe. Lady Marie hatte einen braunen Sammtrock an, sie war mit prachtvol len Armbänder geschmückt, eine leichte goldene Kette um floß ihre Stirne, die in der That einer Krone würdig war. Sie ging einher sicheren Schrittes, hohen Hauptes, stolzen Blickes. Auf diese Weise sahen sich die beiden Mütter zum erste» Male. „Seien Sie willkommen, Madame," sagte Lady Marie, indem sie Eva Meredith grüßte. „Eva versuchte zu lächeln und erwiederte einig« lieb reiche Worte. Wie sollte sie den Haß errathcn, Pe, die nur zu lieben verstand? Wir wandten uns zu dem Kabi nette Lsrd James KisingtonS. Frau Meredith, sich kaum aufrecht haltend, ging zuerst Hinnein, machte einige Schritte und kniete nieder neben 'dem Lehnstuhl ihre» Schwigerva- ter«. Sie nahm ihr Kind in ihre beiden Arme, und es auf di« Knie Lord James KisingtonS legend, rief sie: „Hier ist sein Son!" „Hierauf weinte das arme Weib und schwieg. „Lord James Kifington betrachtete das Kind lang«. In dem Maße, al» er di« Züge seines verlornen Sohnes wiedererkannt«, wurde sein Blick feucht und zärtlich. ES kam ein Augenblick, wo er, sein Alter, den Lauf der Zeit, die erlittenen Unglücksfälle vergessend, sich wieder in jene glücklichen Tage versetzt glaubte, wo er seinen Sohn, al» er noch ein Kind war, an sein Herz drückte. „William! William!" stammelte er; „meine Tochter!" fügte er hinzu, indem er Eva Meredith die Hand reichte. „Meine Augen füllten sich mit Thränen. Eva hatte eine Familie, einen Beschützer, ein Besitzthum; ich »ar glücklich, und das war vielleicht der Grund, warum ich weinte. , „Dar Kind, welches ruhig auf dem Schooße seilte« Großvaters blieb, hatte weder Freud«, noch Furcht bezeugt. „Willst Du mich lieben?" sagte der Greis zu ihm. „Das Kind erhob sein Köpfchen, antwortete aber nicht- „Verstehst Du mich? ich will Dein Vater sein." „Ich will Dein Vater sein!" wiederholte da» Kind sanft. „Entschuldigen Sie es," sagte seine Mutter, „G ist immer allein gewtsen, es ist noch sehr klein, alle diese Leute schüchtern es «in; später, Mylord, wird e» ihre sanfte Wort« bessrr begreif«»." „Aber ich betrachtet« dar Kind, ich beobachtet« «» im Stillen, ich erinnerte mich meiner unheilweissagende» Ve- fürchtunge». Ach! diese Befürchtungen hatten sich ist Ge wißheit verwandelt; der furchtbar« Schrecken, den Sva Meredith während ihrer Schwangerschaft «»»gehalten, hatte trübselige Folgen für ihr Kind, und nur einer junge» Mutter in ihrer Lieb« und Unerfahrenheit konnte diese« Unglück so lange verborgen bleiben. „Zu gleicher Zett wie ich, und eben so wie ich, betrach, tete Lady Marie das Kind. „Ich werde in meinem Leben den Ausdruck ihrer Ee» fichtSzüge nicht vergessen: sie stand aufrecht, thr durchboh render Blick weilte auf dem kleinen William und schien bis in das Herz des Kindes dringen zu wollen. Je nach dem sie es betrachtet«, schossen ihre Augen Blitze, shr Mund öffnete sich halb, gleichsam zu lächeln, ihr Athem war kurz und zurückgehalten, wie wen« man ein« große Freude erwartet. Sie betrachtete, betrachtete wieder — auf ihrem Gesichte war Hoffnung, Zweifel, Erwartung. Endlich wurde ihr Haß hellsehend, ein innerer Siegesschrei ent wischte ihrem Herzen, schritt aber nicht über ihre Lippen. Sie wandte sich weg, warf einen geringschätzigen Blick auf Eva, ihre besiegte Feindin, und ward wieder empfindunS- los. „Lord James Kisington, ermüdet von den Aufregungen des Tages, entließ uns aus seinem Kabinette. Den ganze» Abend blieb er allein. „Als ich am andern Tage, nach einer bewegten Nacht, zu Lord James Kisington hinabging, war seine ganze Fami lie schon um ihn versammelt; Lady Mari« hielt den klei- uen William auf ihrem Schooße; sie kam mir vor wie ein Tiegcr, der sein« Beute festhält. „Das schöne Kind," sagte sie; „schäum Sie, Mylord, diese seidenartigen, blonden Haare, wie sie in der Sonn« glänzen! — Aber, thcure Eva, ist denn Ihr Sohn immer so schweigsam? Er hat nicht die Beweglichkeit, di« Munter keit seines Alters." „Er ist immer traurig," versetzte Frau Meredith. „Ach! bei mir konnte er nicht lache» lernen!" „Wir wollen suchen, ihm Venmügen zu machen, ihn zu erheitern," entgegnete Lady Marie. „Komm, lieb«» Kind, umarme Deinen Großvater, reiche ihm Deine Anne- hin, und sage ihm, daß Du ihn liebst." „William rührte sich nicht. „Weißt Lu nicht, wie man umarmt? Harty, ««tn Freund, umarme Deinen Oheim, gehe Deinem Vetter mit gutem Beispiele voran." „Harry sckwang sich auf die Knie Lord Jame« Ktflng- ton« schlang beide Arm« um seinen Hal« und sprach: „Theurer Oheim, ich liebe Dich." „Nun ist die Reihe an Dir, mein Neber WilftM," nahm Lady Marie wieder datz Wort.