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Dipl.-Lehrer des Marxismus-Leninismus Heinz Rieger, Institut für Marxismus-Leninismus der Medizinischen Akademie Dresden Arzt-Patient-Beziehung - klassenneutral? 5. Das soziale Wesen der Arzt-Patient-Beziehung im Zerrspiegel spätbürgerlicher Auffassungen In welcher Weise glauben die bürger lichen Theoretiker der Medizin besonders in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre und an der Schwelle zu den siebziger Jahren dieser „neuen Zeit“ in bezug auf die Arzt-Patient-Beziehungen Rechnung zu tragen? Charakteristisch ist zunächst, daß sich die Spitzen der medizinischen Wis senschaft in der BRD immer stärker auf Sozial- und Präventivmedizin orientieren, allerdings sehr begrenzt und wider sprüchlich im Rahmen der Entwicklungs problematik des staatsmonopolistischen Systems, daß sie überhaupt das Soziale (obwohl nicht im Sinn der marxistisch- leninistischen Gesellschaftswissen schaft, sondern auf der Basis bürger licher Soziologie) stärker in den Vorder grund rücken und eine Zusammenarbeit mit Soziologen für unumgänglich not wendig erachten. Man findet in diesem Zusammenhang in der Literatur mitunter auch subjektiv ehrliche kritische Stel lungnahmen zu der oben dargelegten ausgesprochen konservativen Ideologie ärztlicher Standesfunktionäre. Für dieses Umdenken sind mehrere Gründe ausschlaggebend. Einmal, wie schon erwähnt, die Notwendigkeit, neue Lösungen zur besseren Integration des Gesundheitswesens in das System des Staatsmonopoiismus zu finden, die dem enormen technisch-wissenschaftlichen Fortschritt auf dem Gebiet der Medizin besser gerecht werden. Die konser vativen Standespolitiker wollen dagegen unter allen Umständen die sogenannte freie Praxis erhalten und die ohnehin schon sehr lukrativen Privatpraxen 1 durch Übernahme der Technik, be grenzter Versorgungsmaßnahmen u. a. noch ergiebiger gestalten. Zum anderen zeigen Beispiele kapitalistischer Ver staatlichung des Gesundheitswesens, daß der „Medizinbetrieb“ auch auf einer solchen Grundlage nicht minder ge winnversprechend funktionieren kann; und last not least sind es die un übersehbaren, bedeutenden Fortschritte des sozialistischen Gesundheitswesens, die den Anstoß geben, darüber nach zudenken, wie man „neue“ Wege beschreiten kann, um in der Sy stemauseinandersetzung zwischen So zialismus und Imperialismus noch bestehen zu können. Das veränderte Kräf teverhältnis zugunsten des Sozialismus wirkt hier zweifellos als Hebel. Aus diesem Umdenken ergibt sich auch eine neue Einstellung zum Arzt- Patient-Verhältnis, das jetzt stärker im Lichte der spätbürgerlichen Soziologie betrachtet wird. Dabei spielt die me dizinische Soziologie des amerikani schen Soziologen Talcott Parsons 2 eine maßgebliche Rolle. Die Arzt-Patient- Beziehung wird in der Betrachtungs weise von Parsons als klassenindifferen tes Rollenverhältnis gefaßt. Hierin ist „die Sozialfunktion des Arztes gerade nicht die eines unmittelbaren zwischen menschlichen Bezuges“ nicht in erster Linie persönliche, menschliche Bindung, „Akademie-Echo“ Seite 3 „sondern eine Rollenfunktion für einen bestimmten Zweck“ 3 . Der Arzt ist me dizinischer Spezialist und zugleich Rol lenträger, der eine Dienstleistung an bietet, der Kranke ist „Empfänger von wissenschaftlichen Dienstleistungen ei nes wissenschaftlich ausgebildeten Be rufsarztes“ 4 . Die Arzt-Patient-Beziehung bestehe daher „im Kern aus folgenden Strukturelementen: Der Patient bedarf fachkundiger Dienstleistungen, weil we der er noch seine Angehörigen .wissen', wie die Dinge stehen oder was zu tun ist, und weil er nicht über die erforderlichen Hilfsmittel verfügt. Der Arzt ist ein Fachmann, der auf Grund spezifischer Ausbildung und Erfahrung und durch einen institutionell garantierten Status qualifiziert ist, dem Patienten zu helfen, und zwar in einer Situation, welche institutionell in einem relativen Sinn als legitim definiert ist und als der Hilfe bedürftig. " 5 Parsons entwirft also eine im Grunde technokratische, nur die fach liche Seite in Rechnung ziehende Auffassung vom Arzt und seiner Rolle und definiert die Arzt-Patient-Beziehung un ter Ausklammerung ihres sozialen We sens in der spätbürgerlichen Gesellschaft lediglich als Dienstleistungsverhältnis. Das entspricht völlig seiner Theorie des sozialen Handelns (social action) und der in ihr enthaltenen Methode der „strukturell-funktionalen Analyse“, die in der bürgerlichen empirischen Soziologie Verbreitung fand. Der Raum verbietet es hier, näher auf diese Theorie einzugehen. Wir begnügen uns damit, den west deutschen Landarzt Paul Lüth zu zitieren, der Parsons’ letztlich positivistische Medizinsoziologie u. a. wie folgt cha rakterisiert: „Parsons identifiziert sein mystisches allgemeines Interesse mit dem realen Interesse der Herrschenden (sprich: der Monopolbourgeoisie, H. R.) und macht den Arzt damit zum Garanten des Bestehenden... Die Technokratie der Ärzte wird als Technokratie von In genieuren mit besonderem Aufgaben bereich gesehen. Indem er es ablehnt, die Krankheitsrealität unverstellt zur Kennt nis zu nehmen, die immer neben der somatischen die psychische und soziale Seite hat, enthebt er sich - und die Ärzte - der Mühe, aus Erkenntnissen konkrete politische Konsequenzen zu ziehen. Nur mit dieser Ausblendung, für deren Stabilität er auf das falsche Bewußtsein der Ärzte vertrauen kann, wird die ärzt liche Praxis zum wirksamsten Mechanis mus sozialer Pazifizierung... Damit ist, scheint es, die Anpassung der Medizin an die Gesellschaft im Spät kapitalismus in einer Weise gelungen, die nicht mehr zu übertreffen ist. Damit sind allerdings auch die Ärzte, darüber kann Zweifel kaum aufkommen, an eben diese spätkapitalistische Gesellschaft und die Besonderheiten ihrer Strukturen und Normen in einer Weise gebunden, die es bis dahin für den ärztlichen Berufsstand noch nicht gegeben hat. ... Der Arzt, immer Leibarzt, ist nun Leibarzt des anonymen Ganzen geworden, von dem man sagen müßte, daß es das Unwahre ist.“ 6 Dem ist kaum noch etwas hinzuzufügen, höchstens, daß Lüth den Ausweg aus diesem Dilemma leider nicht im Sozialismus sieht. Im Abschnitt seines Buches über den „mündigen Patienten“ fordert er lediglich, die Ärzte müßten der technokratischen Tendenz widerstehen. Der Beitrag von Ärzten und Patienten während der „Evolution des Spät kapitalismus zum totalitären Verwal tungsstaat“ 7 solle in Kritik bestehen, „da die Abstinenz von Kritik in der zeit genössischen (west-)deutschen Medizin die Entfremdung im Gesundheitswesen steigern, den Umschlag in totalitäre Medizinaladministration - mit dem strammen Reihenuntersucher als re präsentativen ärztlichen Typus - be günstigen würde“ 3 . Er tritt schließlich für eine kritische, der Öffentlichkeit weit geöffnete Medizin ein, in der die Patienten letzlich etwas ganz anderes suchen als Computer, Superkranken häuser und Superpolikliniken, nämlich Mitgefühl und Interesse. 9 Aber hier ist unser kritischer Kritiker wieder bei Thieding oder Muschallik angelangt, wenn auch prinzipiell nicht mehr ro mantisierend nach rückwärts gewandt, sondern das Unausweichliche, nämlich die Anpassung des Imperialismus an wissenschaftlich-technische Revolution und verändertes intersystemares Kräf teverhältnis zu seinen Ungunsten, zwar widerstrebend und mit kritisch er hobenem Zeigefinger akzeptierend. Es erweist sich, daß die beiden von mir dargelegten Auffassungen über das Arzt-Patient-Verhältnis zwei Seiten einer Medaille sind, Reflex grundlegender gesellschaftlicher Antagonismen im Be reich des spätkapitalistischen Gesund heitswesens, die letztlich auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft objektiv nicht gelöst werden können. Die Waffe der Kritik, die Lüth fordert, kann, wie schon Karl Marx schrieb, die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß vielmehr gestürzt werden durch materielle Gewalt. Literaturnachweis: 1 Der Spiegel, Jahrgang 1972, Hefte 11, 12, 13, 14, 15, 16 2 Parsons, Talcott: Struktur und Funktion der Medizin. Eine soziologische Analyse, in „Probleme der Medizinsozio logie“, Sonderheft 3 der Kölner Gesell schaft für Soziologie und Sozial psychologie, Köln und Opladen 1958, 2. Auflage 1961 3 Finzen, Asmus: Arzt, Patient und Gesellschaft. Die Orientierung der ärztli chen Berufsrolle an der sozialen Wirklich keit. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1969 (Medizin in Geschichte und Kultur, Bd. 10) S. 90 4 Parsons, a. a. O. S. 51 5 Ebenda, S. 19 6 Lüth, Paul: Ansichten einer Künftigen Medizin. Carl Hauser Verlag München 1971 (Reihe Hauser 60), S. 30 31,32 (Der umfangreiche Passus wurde von mir gekürzt, H. R.) 7 Ebenda, S. 87 8 Ebenda, S. 88 9 Ebenda Angeregter Erfahrungsaustausch Kürzlich besuchte Herr Professor Dr. S. G. Kom, Direktor des Instituts für wissenschaftlich-medizinische Kinematographie an der Akademie der medizinischen Wissenschaften der UdSSR in Moskau und Mitglied der Internationalen Gesellschaft für den wissenschaftlichen Film, unsere Einrichtung. Professor Kom, der als Gast der Akademie der Wissenschaften der DDR in unserer Republik weilte, interessierte sich speziell für die Methoden der Intravitalmikroskopie und die an unserer Akademie von Dr. F. D. Ernst, Stomatologische Klinik, entwickelte Einrichtung für die intravitale Mikrokinematographie. Während gemeinsamer experimen teller Arbeiten kam es zu einem angeregten fruchtbaren Erfahrungs austausch, ganz im Sinne der zunehmenden wissenschaftlichen Integration zwischen sozialistischen Ländern, die sich in besonderem Maße auch auf den wissenschaft lichen Gerätebau erstreckt. Professor Dr. S. G. Kom