Volltext Seite (XML)
6 Academia Medicinae Dresdensis Wissenschaft Kürzlich wurde vom Verlag Volk und Gesundheit in Berlin ein Buch herausgegeben, dessen erste Auflage 1984 im Rowohlt-Verlag Reinbek bei Hamburg erschienen war. Benno Müller-Hill, geb. 1933, Professor für Genetik an der Universität Köln, be richtete darin unter dem Titel „Tödli che Wissenschaft" über „Die Ausson derung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933-1945". In einer gründlichen Analyse werden Fakten über ein sehr dunkles Kapitel deut scher Geschichte in einen geistigen und historischen Zusammenhang ge- •stellt. Es geht um die Mitwirkung von führenden Wissenschaftlern der An thropologie und Vererbungslehre, auch von Vertretern der umstrittenen Rassenlehre und sogenannten „Ras senhygiene" sowie von Psychiatern bei der Verfolgung, Internierung, Ste rilisierung und Tötung bestimmter Menschengruppen. Juden und Zi geuner, körperlich und geistig Behin derte wurden erst mit wissenschaftli cher Gründlichkeit erfaßt, danach mit Methoden der Wissenschaft unter sucht und zuletzt vernichtet. Mehr als 5 Millionen Juden, über 200 000 Geisteskranke und rund 50 000 Zigeuner gehören zu den Op fern- einer verbrecherischen Ideolo gie. Das Buch von Müller-Hill zeigt aber auch ganz deutlich, daß die wis senschaftlichen Vertreter dieser Auf fassungen - angesehene und persön lich ehrenwerte Professoren - von der Wahrheit ihrer Lehre überzeugt waren. „Wissenschaftliche Objektivi tät selbst war es, die ihnen die Tür zu jeder Barbarei öffnete und ihnen er möglichte, jene zu vernichten, die sie nicht verstanden.“ Die Interviews mit den überleben den Beteiligten, ihren ehemaligen Mitarbeitern oder Kindern zeigten dem Autor, daß offenbar keiner der Verantwortlichen auch später über die Folgen seines Tuns nachdachte und sich des begangenen Unrechts bewußt wurde. Ich halte dieses Buch für außeror dentlich wertvoll. Es zeigt, wohin eine „reine" Wissenschaft führen kann, die keine ethisch-moralischen Grund sätze kennt, die keine Menschen rechte berücksichtigt oder die nur von dem Karriere-Streben einzelner Wissenschaftler bestimmt wird. Ich empfehle seine Lektüre, auch wenn diese nicht angenehm sein kann. Über dieses Buch muß sehr gründlich nachgedacht werden. P. Wunderlich ... der Ausgabe 7 (Erscheinungs datum 9. April) ist am 29. März. Für neues Denken - auch im Umweltschutz Die Massenmedien in aller Welt wissen täglich neu, mehr oder minder sachlich, von Umweltschäden und Ökologiekata strophen zu berichten. Es gehört beinahe schon „zum guten Ton", darüber zu re den und vor allem Klage zu führen, wie zerstört hier und da und dort das ökologi sche Gleichgewicht sei; es fehlt auch nicht an örtlich unterschiedlich bedeu tungsvollen, markanten Beispielen. Nicht selten ist davon die Rede, daß der Kunst dünger die Qualität der Kartoffel mindert und damit das Volksnahrungsmittel unse rer geographischen Breiten, um der Menge willen, an Güte verloren habe. Von der Tatsache, daß die Chemisierung der Landwirtschaft andererseits aber bei spielsweise die Getreideerträge beträcht lich erhöhte, ist kaum einmal die Rede,, noch weniger davon, daß in der DDR etwa jedes zehnte Brot nicht verzehrt wird. Es ist im Abfallkübel oder noch schlimmer, im Müllcontainer zu finden und damit ein Teil jener reichlich 200 000 Tonnen Getreide, die der menschlichen Ernähung in unserem Land auf diese Weise jährlich entzogen werden. Ein Er gebnis mißlungener Subventionspolitik. Das dürfte sich wohl absolut nicht mit dem humanen Anliegen eines haushälte rischen Umgangs mit der uns zeitweilig anvertrauten Natur, in der ganzen Fülle und Vielfalt ihrer Erscheinungsformen, in Übereinstimmung bringen lassen. Ein Mehr an individueller Aktivität zur Verhinderung in dieser Hinsicht, das Bei spiel Brot ist hier sowohl konkret zu ver stehen, aber zugleich auch als Symbol der individuellen Verschwendung, stünde uns gut zu Gesicht. Was uns hier mit Bedenken erfüllt, über den Zorn hin aus zu Besorgtheit und Angst führt, muß produktiv werden, verbunden mit dem Anliegen, gipfelnd in der Tat, Verände rungen herbeizuführen. Allerdings spu ken noch gelegentlich in den überalter ten Denkschablonen des institutionalisier ten Mißtrauens Rudimente dessen herum, was bis in jüngste Vergangenheit dazu führte, Umweltbewußte und Natur engagierte zu gesellschaftsfremden Fana tikern und Phantasten (im günstigsten Falle!) abzuqualifizieren. Wer aber Zivil courage hat und seine Bedenken und Un zufriedenheit artikuliert, sachlich und be gründet versteht sich, ist in den selten sten Fällen ein potentieller Kritikaster und nicht „aus Prinzip" dagegen, sondern in der überwiegenden Mehrheit aller Bei spiele solchen Verhaltens ein zur Aktivi tät bereiter Mithelfer, die Situation zu verbessern und bereit, dem gesellschaft lichen Unheil den Kampf anzusagen. Denn noch immer liegt wegen der Träg heit der Herzen vieles im Argen, trotz ei nes gewachsenen Umweltbewußtseins, eines gesunden Maßes an Unduldsamkeit und unstreitbar erreichter einzelner Er folge. Aber noch immer wird man in er schreckendem Maße mit der Auffassung konfrontiert, die Natur sei unverwüstlich, ihre Reserven und Regenerationsfähig keit seien unerschöpflich, und außerdem - gibt es doch für dieses Problem verant wortliche staatliche und kommunale Insti tutionen und Einrichtungen. Dieser Standpunkt ist nicht zeitgemäß und fragwürdig, denn Umweltschutz im Noch gibt es sie - die Babisnauer Pappel - fotografiert von Will Broesan. weitesten Sinne des Begriffes ist in unse rer Zeit keine Ermessensfrage von ver antwortlichen Institutionen mehr, son dern ein globales Problem menschlicher Lebensqualität von außerordentlicher Komplexität einerseits und damit verbun dener Kompliziertheit andererseits. In der Welt des Hungers führen Brandro dungen und Kahlschlag des tropischen Regenwaldes und Überweidung der Bo denvegetation zur Versteppung und Bil dung neuer Halbwüsten mit nicht abfang baren klimatischen Auswirkungen. In der Welt der übersättigten Konsumtion und der Mißachtung des Brotes werden Land schaftsschutzgebiete durch Urlauberinva sionen und Massentourismus dezimiert und manches Biotop für die organisiert individuelle Kleingartennutzung zersie delt, parzelliert und betoniert. Von den „wilden" Zivilisationsmülldeponien aller orts ganz zu schweigen. Dazu die Auswir kungen einer vorwiegend auf Massen produktion orientierten Industrie mit ih ren enormen Schadstoffausstößen und die Energiestrategie der Zerstörung des biologischen Gleichgewichtes. Unerheb lich wie auch immer, das Ergebnis ist eine zerstörte Natur und deformierte Um welt, wobei Hunger und Unwissenheit als Triebkraft solchen Handelns noch ver ständlich ist. Hier gilt es Grundsätzliches neu zu durchdenken und vor allem, von selten der Organisationen, neu zu prakti zieren. Etwa in einem solchen, von Extremsi tuationen charakterisierten Rahmen, be wegten sich auch die engagierten Aus führungen und Diskussionen auf der ersten Nationalen Umweltkonferenz in jüngster Vergangenheit, zu welcher der Beirat für Umweltschutz beim Ministerrat eingeladen hatte. Erreichte Verbesserun gen, gute Einzelbeispiele, Modelle und vieles gut Gedachte sensibilisiert aber noch nicht genügend das Bewußtsein der Bevölkerung dafür, daß Umweltschutz nicht nur eine Tagesaufgabe für eine ver antwortliche Minderheit, sondern der Le bensschutz aller Denkenden für zukünf tige Generationen ist. Dieser moralischen und gesellschaftlichen Neubewertung, dem Infragestellen bisherigen Denkens, diesem Ringen um neues Denken und neue ethische Kategorien, parallel zu ma teriellem Besitz und Konsum, können und dürfen wir uns nicht länger entziehen. Die Natur als Quelle des materiellen Reichstums zu nutzen, oft über die Gren zen des Erträglichen hinaus, verknüpft mit einer in den Auswirkungen schwer vorstellbaren Intensivierung und Tempo beschleunigung des wissenschaftlich- technischen Fortschritts, steht in gravie rendem Widerspruch zum Defizit an geistigen, an ethischen Werten. Nur ein die Erde umspannendes neues Denken, auf der Grundlage einer moralisch-ethi schen Erneuerung der allgemein-humani stischen Moralanschauungen, die allen Bewohnern unseres schönen, aber auch zerbrechlichen Planeten zu eigen ist, kann dieses Problem der Menschheit lö sen. Nur eine rigorose Trennung von den Denk- und Verhaltensschemata her kömmlicher Art und die Mobilisierung al ler geistigen Potenzen im breiten Spek trum der global-menschlichen Lebensin teressen birgt die Lösung in sich. Dazu gehört auch das Problem des Umgangs mit der Natur, wobei dem Schutz der na türlichen Umwelt ein besonderer Stellen wert zukommt. Und hier sind jedem von uns in Haus und Familie, Arbeitsumfeld und gesellschaftlichem Wirkungskreis und um der Zukunft willen, in der Erzie hung unserer Kinder im Geist neuen Den kens, vielfältige Handlungsmöglichkeiten eingeräumt. Um eine für die Umwelt er trägliche Produktion zu schaffen und mit einer ökonomisch unbedenklichen Kon sumtion zu verbinden, sind uns doch for mell zumindest alle gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben. Ein bedeuten der Reformer, Martin Luther, gibt uns dazu moralische Kraft und Hoffnung im Sinngehalt seiner Worte: „Selbst wenn ich wüßte, daß die Welt morgen unter geht, würde ich dennoch heute einen Ap felbaum pflanzen." Im „dennoch" liegt unsere lebensbewahrende Chance. Den ken und auf der Grundlage neuen Den kens, dem Anliegen angemessen, aktiv zu handeln, müssen wir selbst. Durch diesen subjektiven Faktor im Gesamtpro zeß entscheidet sich auch im Umwelt schutz alles - heute und morgen. Georg Daniel