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Einsammelns zn rechter Zeit bedurfte, um sich mit Spinnmaterial zu versehen, mag mohl gleichzeitig mit dem Wollfaden auch der Baumwollfaden zur Verwendung gekommen sein. Das älteste zur menschlichen Kleidung verwendete Gcspinnst könnte aber auch der vou der Seidenraupe fertig gelieferte Faden, den der Mensch nur abwickeln brauchte, um ihu sofort zu verarbeiten, gewesen sein. Da indessen gerade China, dieses schon in vorgeschichtlicher Zeit gegen die Außenwelt abgeschlossene Reich, die Heimath der Seidenraupe war, und Chinas Geschichte und Entwickelung in vieler Beziehung uns hent noch als ein Buch mit sieben Siegeln erscheint, so mag die Frage immerhin unentschieden bleiben, ob die ersten menschlichen Gewänder wollene, baumwollene oder wohl gar seidene gewesen sind. Linnen waren sie jedenfalls nicht, denn die Spinnbarmachung der Bastfasern — gleichviel ob dem Flachs, dem Hanf, der Jute- oder Jndiafaserpflauze w. entstammend — seht nothwendig schon einen höhern Kulturzustaud voraus und konnte daher erst später in die Erscheinung treten. Die Rohstoffe aller bekannten Gespinnste und Gewebe kann inan in vier Hanptgrnppen theilen, von denen zwei dem Thierreich und zwei dem Pflanzenreich zugehören; rind wir dürfen dreist behaupten, daß alles, ivas uns die Zukunft an neu entdeckten Rohstoffen noch bringen wird, diesen vier Gruppen sich einordnen wird. Wenn wir hier, dem herkömmlichen Brauch entgegen, das Thierreich vor dein Pflanzenreich nennen und durchforschen, so soll damit der Ansicht Ausdruck gegeben werden, daß das Thierreich früher als das Pflanzenreich die Kleidung für den Menschen geliefert hat; die Feigenblätter Adams und Evas dürfen wir wohl kaum Kleidung nennen. Daß man auch das Mineralreich für die Spinnstoffe dienstbar macht, und daß man aus Asbest, aus Gold, Silber, Bronce w. und besonders aus Glas feine Faden zieht, welche bei Herstellung verschiedener technischer Gcbrauchsgegenstände sowie von Schmuck- und Lurusstoffen Verwendung finden, mag hier außer Ansatz bleiben; wir wollen uns in diesem Werk nur mit der lebenden oder organischen Welt beschäftigen, die allein für den Mikroskopiker von Interesse ist. Hie Rohstoffe aus öem Mierreich. Erzeugnisse öer Spinne unö Seidenraupe. a. Die Lpume. schon erwähnt, liefert das Thierreich fertig gesponnene Faden, und ist besonders das Fabrikat jener altgriechischen „Arachne" der Sage (zu deutsch Gewebe-Spinne) von keinem spätern Spinnkünstler in Menschengestalt auch nur aunäherud erreicht oder gar übertroffen worden. Der Spinne sind nun freilich von der Mutter Natur die sinnreichsten Werkzeuge zur Anfertigung ihres Gespinnstes verliehen; aber die geschickte Anwendung dieser Werkzeuge läßt auf einen hohen Grad von Intelligenz bei den Spinnen schließen, die uns besonders klar wird, wenn wir den Spinnenfaden neben dem Faden der Seidenraupe unter dem Mikroskop betrachten. An dem Spinnenfaden ist selbst bei tausendfacher Mrgrößerung auch nicht die geringste Ungleichheit zu entdecken, während der Seidenfki^en schon bei viel geringerer Vergrößerung (Tafel 2, Gruppe L) die größte Verschiedenheit bezüglich seiner Stärke zeigt. (Anmerkung: Vom Spinnen faden ist hier keine Zeichnnng beigcfügt, weil derselbe selbst bei tansendfacher Vcr- größernng nnr eine feine glänzende Linie bildet.) Allerdings ist die ursprüngliche und natürliche Bestimmung des Seidenfadens sehr primitiver Art. Zum Zweck des Verpuppens spinnt die Raupe den 1000—1200 Meter langen Seidenfaden (Cocon), mit welchem sie sich während des Spinnens umwickelt, um iu dieser Hülle von dem unbarmherzigen Menschen mit heißem Wasser getödtet und dann des werth- vollen Kleides beraubt zu werden. (Die wenigsten Raupen oder Puppen läßt man zur Schmetterlingsreife gelangen, weil der auskriechende Schmetterling seinen Cocon durchfrißt und dadnrch entwerthet. Siehe nächsten Abschnitt.) Die Spinnwerkzeuge der Seidenraupe sind, ihrem Zweck entsprechend, auch viel einfacher als die der Spinne, während der Spinnprozeß, d. h. die Bildung des Fadens aus dem Spinndrüsensaft, sowie dieser Saft selbst bei beiden gewiß identisch ist. Es ist hier nicht beabsichtigt, eine Naturgeschichte der Spiunen zu schreiben, doch ist es von Interesse, zu erwähnen, wie die Spinne ihren tadellosen Faden spinnt. Die Spinne benutzt nämlich ihre sännntlichen acht Füße znr Spinnarbeil. Diese Füße sind, wie die meisten Leser ans mikroskopischen Abbildungen ersehen haben werden, höchst eigcnthümlich gebildet und mit allerhand Haken, Kämmen und Bürsten versehen, die zum Spinnen und ganz besonders zum Glätten des Fadens dienen. Ain Hinterleibe der Gewebespinnen liegen die Spinnwarzen, vier bis sechs warzenförmige Vorsprünge, ans welchen die Spinn d r ü scn durch feine Oeffnungen münden. In diesen Spinndrüsen bildet sich der Zaubersaft, welcher den Gelehrten noch immer viel Kopfzerbrechen bereitet, und der jedenfalls auch identisch ist mit dem Schleim, welchen wir selbst gleich allen vollkommenen Haar-, Horn-, Stacheln-, Federn- und Schuppen-tragenden Thieren zwischen Epidermis und Eutis (zwischen der dünnen blutleeren Dberhaut und der Lederhaut) bei uns führen, und der von den Gelehrten bald „Malpighischer Schleim" (nach dein Entdecker Marcello Malpighi, italienischer Gelehrter, geb. 1620), bald „Protein" oder Protoplasma" (nach dem altgriechischen Meergotte Proteus, dem Symbol des Urstoffs und der Verwandlung) genannt wird. Der Unterschied zwischen dort und hier liegt vielleicht einzig darin, daß Spinne und Raupe selbslthätig deu Schleim, welcher an der Luft sofort er härtet, aus deu Trüseu ziehen, während derselbe Schleim in den anderen Körpern