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Freiberger Anzeiger und Tageblatt. Erscheint jeden Wochentag früh 9 Uhr. Preis vierteljährlich 15 Ngr. — Inserate werden an den Wochentagen nur bis Nachmittag? 3 Uhr für die nächsterscheinende Nummer angenommen und die gespaltene Zeile u)it 4 Pfennigen berechnet. 198. Rückblicke auf die Lage Sachsens. Es ist eine gute Sitte, an festen Lebensabschnitten still zu stehen und auf Das zurück zu fchauen, was das Mühen ge wann Und das Schicksal verlieren ließ. Auch wenn das Re sultat der Selbstschau unter Null wäre, wenn es reich an ge täuschten und arm an erfüllten Hoffnungen bliebe, fördert es den Nutzen der Erkenntniß, die immer in sich Triebe der Zu kunft trägt und hinter begangenen Jrrthümern den Trost der Besserung erzeugt. Und wie dies am häuslichen Heerd, bei den Sylvesternachts - und Neujahrsmonologen, bei den Fami lienfestvorbereitungen und den Gedenktagen geschiedener Freunde sich bewahrheitet, so drängt es auch draußen im Getriebe der Welt selbst den Thätigen, Eiligen, Muthigen zur kurzen Rast, zur Sammlung, zum Urtheil, vielleicht einmal zur Verurthei- lung, zum Zweifel, nie zur Verzweiflung. Ein fähiger Kopf hält an der Hoffnung fest, weil er Vertraüen zu der Macht der Intelligenz hat, die ihn selbst erfüllt; ein sittliches Gemüth erstarkt im Glauben, der zur Hoffnung führt, in der Ueberzeu- gung vom Sieg des Guten, der sich nur aufhalten, nur strei tig machen läßt, der aber vor dem Weltuntergang und vielleicht noch einige Jahre früher sicher erfochten wird. Der Pessimis mus ist bei dummen Leuten nur Gedankenlosigkeit und bei Ver ständigen nur eine Philosophie der Schwachheit. Zugestanden, daß cs in unsern Lebensverhältnissen viel Schatten giebt — die Pessimisten tragen ihnen keine Lichtfärbung zu. Und doch ist diese das Bedürfniß, das auch sie anerkennen müssen, indem sie auf die Möglichkeit seiner Befriedigung verzichten. Für Lie Einleitung zu einer Reihe von Bemerkungen, die auf sächsische Verhältnisse Bezug nehmen, mögen diese Reflexionen absonder lich klingen; in Wahrheit sollen sie eine captatio benovoloutiLe sein. Sie sollen den Leser mahnen, den Blick festzuhalten nach dem Sonnenlicht der Zukunft, auch wenn eben die nachfolgen den Bemerkungen wie Schatten, wie Wolken dasselbe zu ver decken scheinen. Das Streben der Menschen ist größer, als die Menschen sind, und ihre Ziele sind unvergänglich, wenn auch eine Generation dahinsinkt und vergeht, kaum ohne sie.verfolgt, oft ohne sie erreicht zu haben. Der Trost klingt trivial, für Lämmerherzen erdacht, «her das Studium der Geschichte giebt ihm seine Weihe. Es giebt Rückschritte in der Geschichte, aber auch diese münden in die große Weltenbahn Vorwärts. Eu- ropa's Lage ist nicht ein Stoff der Freude, und Deutschlands 1855. nächste Zukunft scheint auch nicht mit Rosen gekränzt. Ein Krieg, der lange noch vor dem Frieden zur Erschlaffung führt, entmuthigt mehr und mehr, und der deutsch-vaterländische« Geschichte neuesten Datums ist das Wort „Muth" auch nicht an die Stirn geschrieben. Zwar verfolgen Preußen und Oe sterreich in der. großen Weltfrage und beispielsweise Hannover bei Ordnung seiner innern Angelegenheiten eine muthige Poli tik, aber nur in einem gewissen bedenklichen, nicht in unserm Sinne. Unser engeres Vaterland Sachsen findet sich weniger in der Lage, zu großen Entschlüssen gedrängt zu sein, wenn man die Größe nach einem Maßstabe mißt, der nur die äußere Seite und nicht den Kern der Dinge trifft, nach dem Maß stabe der öffentlichen Debatte, des Aussehens, mit dem daS deutsche Ausland sich uns zuwendet. Man hat wohl allerwärts seine nächsten Sorgen, und es gehört eine Freude oder ein Schmerz ungewöhnlicher Art dazu, wenn er jenseit der nächsten Landesgrenzpfähle nachhaltig mitempfunden werden soll. Aber auch ohne Aufsehen zu erregen, bieten unsere Zustände Spitzen, die verwunden, und Heilmittel, die in unserm konstitutionellen Staatswesen etwas Ueberraschendes haben. Ihrer zu gedenken, ladet der Landtagsschluß ein, ihrer zu gedenken, mahnt der Jahrestag von Brennbichel, ihrer zu gedenken giebt ein evan gelisches Jubelfest demnächst Anlaß, das in kurzer Zeit erlebt und festlich begangen oder nicht festlich begangen werden, gewiß aber den Bekennern der protestantischen Kirche an's Herz klopfen wird, Zeugniß zu thun von der Frucht, welche der Religions- friede der Sittlichkeit, der Toleranz, dem milden Christenfinne und der Aufklärung in drei Jahrhunderten getragen hat. Die finanziellen Zu stände unseres Vaterlandes, auf die wir zuerst einen kurzen Blick werfen dürfen, weil die Land tagssession, die vor wenigen Tagen zu Ende ging, vorzugsweise finanzielle Gegenstände zu berathen hatte, sind — wie von allen Seiten versichert wird — „befriedigende". Wer möchte daran zweifeln, wo durch Zahlen der Nachweis, der mathematische Nachweis, geführt wird? Sie sind „erfreuliche", denn der Credit Sachsens blüht. Wer sollte sich nicht auch an dieser ' Thatsache freuen, die der Entwickelung des Verkehrs und dem sächsischen Renommie so großen Nutzen schafft? Sie sind auch „wohlgeordnete", wie Jeder zu seiner Beruhigung aus den. voluminösen Nachweisen der Landtagsacten sich überzeugen kann, und Jedermann wird dies zu schätzen wissen und sich dem Ver trauen hingeben, das die Sorgfalt jener Nachweise weckt. Aber. Sonnabend, de« SS. August