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Freiberger Anzeiger . - UN- Tageblatt. ——— Erscheint jeden Wochentag früh S Uhr. Preis vierteljährlich 15 Nzr. — Inserate werden an den Wochentagen nur bis Nachmittags Z Uh^ - für die nächstcrscheinende Nummer angenommen und die gespalrene Zeile mit 5 Pfennigen berechnet. 171. Mittwock, den 28. Juli 1855. Praktische Anwendung der Phrenologie auf die Erziehungslehre. Wenn es unzweifelhaft ist, daß die Naturwissenschaften in neuester Zeit riesenmäßige Fortschritte gemacht haben, so findet diese Erscheinung ihren Grund darin, daß man angefangen hat, die Natur selbst aufis Genaueste zu beobachten. Wer die Na turkräfte und die Regeln, nach welchen sie wirken, genau kennt, wird jedenfalls den Grund von den Naturerscheinungen richtig finden, ja selbst durch Anwendung dieser Erfahrungen solche Erscheinungen hervorbringen können. Der Erfolg lehrt in tau send Fällen, daß der Weg der Beobachtung zum Ziele führt. Und dieses Verfahren muß auch auf die Ausbildung der Gei stes- und Körperkräfte des Menschen angewendet werden. Je des Wort über Erziehung, das nicht auf diesem Grunde ruht, muß als seichtes Geschwätz und leicht umstößliche Hypothese betrachtet werden. Das öffentliche Urtheil hat auch-immer über solche Arbeiten den Stab gebrochen. Kenntniß des ganzen Men schen muß erst da sein, wenn etwas Werthvolles über Erziehung gesagt werden soll. Das sichtbare Werkzeug des Geistes ist das Gehirn. Genaue Kenntniß dieses Körpertheils giebt den Grundsätzen Ler Erziehung die sicherste Grundlage.. Wir wissen wohl, daß die Phrenologie oder Gehirnlehre eine noch nicht völlig sicher abgeschlossene Wissenschaft ist, daß noch viele und genaue Beobachtungen hinzukommen müssen, ehe man ganz feststehende Wahrheiten darauf bauen kann. Doch darf das, was sie bis jetzt geleistet hat, keineswegs verächtlich bei Seite geworfen, sondern muß dankbar beachtet und mit Vorsicht be nutzt und verbreitet werden. Gustav Scheve, dessen sich noch viele Bewohner dieser Stadt mit Anerkennung erinnern, hat in jüngster Zeit seine Ansichten über die Naturgesetze der Erziehung und des Unterrichts in einem Schriftchen niedergelegt, das, wenn man auch nicht Alles geradezu unterschreiben kann, doch des Wahren und Nützlichen zu viel enthält, als daß man es nicht als Pflicht erachten sollte, Einiges daraus in weiteren Kreisen verbreiten zu helfen. Scheve sagt: Für die Erziehung ist schon wichtig die Wahl des Ehegatten, denn die Aehnlichkeit zwischen Eltern und Kindern ist nicht blos eine körperliche, sondern auch, weil das Gehirn, das Organ des Geistes, ein Theil des Kör pers ist, eine geistige, und dann muß eine zu große Verschie denheit in der Gehirnorganisation eine mächtige Abweichung der Ansichten, wie in Folge dessen höchst nachtheiligen Zwie spalt über die Erziehungsweise der Kinder veranlassen. Zweck der Erziehung ist, die angeborne Geistes- und Körperkrast theW möglichst zu steigern, theils zu bilden. Die Steigerung oder Förderung des Wachsthums der Kräfte wird durch die Ernährung des Körpers und Gehirnes, die Bildung der Kräfte wird durch Uebung derselben erreicht. Wer das Wachsthum der Geisteskräfte fördern will, muß den Körper gut nähren. Speise und Trank des Kindes sei also wohl nährend, nicht mager und dürftig; daher dem kindlichen Älter angemessen, nicht zu schwer, mannigfaltig, niemals Kaffee oder Thee. Milch ist für alle Kinder eine treffliche Nahrung; starke, muskelkräf- tige Kinder sollen mehr Obst und Gemüse, zarte, nervöse Kin der mehr Fleisch, auch etwas Wein genießen. Die Kartoffel ; als einzige oder Hauptspeise nährt wohl dürftig, giebt aber - DM keine Kraft; besonders die Stosse des Gehirns sind in dieser - § Frucht viel zu wenig enthalten. Zu allgemeiner Kartoffelge- j nuß hat körperliche und geistige Schwächung zur Folge, dafür sind Brod und Hülsenfrüchte (Erbsen, Linsen, Bohnen) eine treffliche Nahrung. Reine, trockne, sonnige Lust, Reinlichkeit, ziemlich starke und anhaltende, aber nicht völlig ermüdende Be wegung dienen zur Steigerung der Kraft. Während die kör perliche und geistige Erziehung in Bezug auf Kraftsteigerung durch Ernährung in Eins zusammenfallen, so sind dagegen beide in Bezug auf Bildung und Uebung des Geistes unter sich ge trennt. Denn irgend ein Körpertheil, eine Geisteskraft kann geübt werden, und daneben irgend ein anderer Körpertheil, eine andere Geisteskraft nicht. Die Uebung kann zwar sehr viel thun, aber doch weit weniger, als die Natur selbst. Die Uebung kann der Natur dienen, nie über sie herrschen. Aus einem Zwerge kann man keinen Riesen, aus einem beschränkten Kopfe kein Genie machen. Scheve nimmt an, daß Uebung die ange borne Kraft etwa um den fünften Theil verändere. Die Ue bung muß dahin streben, daß eine Körper- oder Geisteskraft weder zu einseitig gesteigert wird, noch zu sehr zurückbleibt. / Zu diesem Zwecke ist das Turnen ein treffliches Mittel; dasselbe ist jetzt für Viele gleichsam nur ein Spiel, es wird einst eine große, heilige Sache sein. Bei der Wahl eines Berufes kommt wett mehr das Maaß der Geisteskraft, als das der Körperkrast in Betracht. Jeder gesunde Mensch besitzt in der Regel die zu irgend welchem Berufe nöthige Körperkraft. . Es ist ein großer Jrrthum, daß ein körperlich schwächliches Kind zu einem Be rufe bestimmt werden müsse, der wenig körperliche Kraft rrsvr-