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842 Gegenwehr gefallen lassen? Die Unsittlichkelt des Kriegs ohne alle Einschränkung prvclamiren, heißt in der That nichts An deres, als die heiligsten Ordnungen der Natur umstoßen, jeden Fortschritt des Menschengeschlechts ersticken und die Geschicke der Welt der rohen Gewalt preisgeben. Will man den Grund satz anerkennen, jeder Krieg ist unsittlich und darum darf er nicht geführt werden, so heißt dies: das Recht und dieTu- gend müssen entwaffnet und jeder Willkühr und rohen Gewalt preisgegeben werden. Dadurch wür den die Ungerechten, die Lasterhaften, die Gewaltthätigen zur Alleinherrschaft gelangen. Dadurch würde aber kein ewiger Friede hergestellt; denn es würden immer wieder andere stär kere, gewaltthätigere Völker aufstehen und den vorigen unge rechten Siegern ihre Beute aus der Hand zu reißen suchen. Das Programm der Friedensfreunde würde die Erde in längst überwundene Barbarei und in tiefes Elend zuriickstoßen. Hätten vor Jahrhunderten die civilisirten Völker Europa's sich nicht ihrer Haut gewehrt, so wären heutzutage Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und England wahrscheinlich die Domänen mongolischer Häuptlinge oder türkischer Pa- scha's, und die europäische Christenheit würde denselben rechts losen Zustand haben, wie die Rajahs im Morgenlande. Sodann pstegen die Freunde des Friedens um jeden Preis — mit großer Geringschätzung von den Lehren des europäischen Gleichgewichts zu reden. Nun ist es wahr, die Krimm ist a n und für sich uns Westeuropäern ziemlich gleichgültig, die Türkei eben so; aber beide Länder sind für Jeden von uns, für jeden Kaufmann, Fabrikanten, Handwerker und Landmann von einer unermeßlichen Wichtigkeit deshalb, weil die Krim das osmanische Reich zu beherrschen droht, und weil die Türkei Europa beherrschen kann, wenn sie in dm Besitz der ehrgei zigen Großmacht Rußland geräth. Auch vor E Jahren, als dir wilden Türken aus Asien nach Europa kamen und das christliche Constantinopel und mit ihm das morgenländische Kaiserthum eroberten, sagte man in Westeuropa: ach, was geht es uns an, wer in Constantinopel herrscht? sollen wir Ketzern Beistand leisten? — so sprachen die lateinischen Christen. Man liebte damals in Westeuropa den Frieden um jeden Preis. Damals gab es auch eine orientalische Frage, gegen die die Abendländer sehr gleichgültig waren, und die Folge der Gleich gültigkeit gegen die damalige orientalische Frage war die: die türkische Großmacht setzte sich in Europa fest, sie eroberte später di« Südküste des Mittelmeeres, unterwarf sich mit größter Grau samkeit Ungarn, bedrohte Wien, und die Christenheit des Abendlandes mußte Jahrhunderte hindurch einen Krieg nach dem andern führen, um sich des Erbfeindes zu erwehren, was sie ersparen konnte, wenn sie in Zeiten vereinigt gegen die an- rückenden Dränger auftrat; sie mußte später oft genug in Kir chengebeten bitten: „Behüte uns vor des Türken grausamem Wüthen und Morden." In Constantinopel wurden christliche Für^rn alö Vasallen behandelt, die Türken erhoben sich bald zu einer Seemacht, deren Flotten alle Küsten des Mittelmeeres in Schrecken setzten und deren Kaperschiffe alle Flaggen des Abendlandes tributpflichtig machten. Der Krieg gegen Rußland kostet unendlich Geld und Men schen, auch haben die Westmächte in der Krim Rußland nicht beim rechten Zipfel angepackt; allein erhebt sich Westeuropa jetzt wie ein Mann gegen das eroberungssüchtige Rußland, so entgeht es oer Gefahr, später, wenn Rußland erst die Türkei hat, unterjocht zu werden. Das wird nicht in den nächsten Jahren schon geschehen; aber wer will Rußland dann einen Damm entgegensetzen, wenn es im Besitz der weltbeherrschenden Meerengen von Constantinopel, der Türkei und der untern Donauländer ist, da die Besiegung des nordischen Riesen schon England und Frankreich jetzt schwer genug ist? Zu wessen Nutzen wird also der jetzige Krieg geführt? — tt — Die neueste Mäßigkeitsgesetzgebung in Amerika. In den Vereinigten Staaten ist der Genuß aller gegohr- nen und gebrannten Getränke durch ein Gesetz untersagt, wel ches im Monat Juli d. I. in Kraft tritt. In dem äußerst kirchlichen England — Kirchlichkeit ist noch lange keine Reli giosität — fangen schon Agitationen an, welche die Legislative zu einem ähnlichen Schritte bestimmen wollen, und auch in Deutschland haben sich bereits einzelne Stimmen belobend über die fragliche Gesetzgebung Nordamerika's ausgesprochen und ge wünscht, unsere Regierungen möchten gleiche Schritte thun. Wir haben uns vorgenommen, diese Maßregel gegen den Genuß des Bieres und Branntweins zu kritisiren; denn das fragliche Gesetz hat auch für uns seine Bedeutung, nicht nur deshalb, weil es uns einen tiefliegenden Zug amerikanischen Staatslebens ausdeckt, sondern auch darum, weil jene Maßregel zusammenhängt mit dem Kampfe, der die Gegenwart erfüllt, mit der Frage nämlich: wie weit geht die Gewalt des Staates, wie weit die Freiheit des Einzelnen? Auch in Deutschland zeigen sich auf kirchlichem, wie auf staatlichem Gebiete Spuren, die Welt durch Zwang bessern zu wollen, obgleich eine erzwungene Tugend, wenn sie sich überhaupt er zwingen ließe, gar keine Tugend ist, ein Zwang, der nur Er bitterung erzeugt. Die Extreme berühren sich, sagt das Sprichwort. Nun berührt sich das „freie" Nordamerika zwar nicht im Punkte des Schnapses mit Rußland, denn dem Czaaren wird schwer lich einfallen, seinen „rechtgläubigen Kindern" ihre höchste Se ligkeit, den Schnaps, zu verbieten, er schenkt hinsichtlich der Stillung des Durstes noch größere Freiheit, als die Amerikaner. In Rußland bezieht man von dem Branntweinteufel Brannt weinsteuer; in Amerika will man Lurch das bemerkte Verbot auf dem Gebiete der Sittlichkeit Terrain gewinnen für die Volksherrschaft. Man hat in Rußland, wie in Amerika die selbe souveraine Gleichgültigkeit gegen die Grundlagen der Sitt lichkeit und der menschlichen Würde. In diesem Lichte betrachtet, gehören die Gesetze Norbame- rika's gegen den Genuß geistiger Getränke zu den merkwürdig sten Erscheinungen der Zeit; sie sind von kulturgeschicht licher Bedeutung. Wir brauchen unsern Lesern wohl kaum zu betheuern, daß wir vor dem Saufen den Abscheu hegen, welchen alle ordentli chen Leute dagegen empfinden. Wir unterschreiben Alles, was