Volltext Seite (XML)
HM Freiberger Anzeiger und Tageblatt. Erscheint jeden Wochentag früh S Uhr. Preis vierteljährlich 15 Ngr. — Inserate werden an den Wochentagen nur bis Nachmittags 3 Uhr für die nachsterscheinende Nummer angenommen und die gespaltene Zeile mit 5 Pfennigeu^berechnet. ZZ. Mittwoch, den 7. März 1855. Das Wesen einer Großmacht. Während der obwaltenden Krisis spielt der Ausdruck „Groß macht" eine bedeutende Rolle. Auf der einen Seite heißt es, Rußland sei über die Grenzen einer Großmacht hinausgegan gen, auf der anderen Seite behauptet man, Preußen habe auf gehört eine Großmacht zu sein, oder sei wenigstens in Gefahr, diesen Charakter zu verlieren. In der That dreht sich der ganze Streit im Grunde um nichts anderes, als um die Auslegung des Begriffes, welchen man mit jenem vielgebrauchten Worte zu verbinden habe, um das Verhältniß der großen Mächte untereinander, wie es durch die Interessen des gesammten Welt- theils geboten erscheine. Es fragt sich also: worin besteht das Wesen einer Groß macht, wodurch unterscheidet sich eine solche von anderen Staa ten. Der erste Blick auf die Landkarte zeigt, daß die geogra phische Ausdehnung nichts damit zu schaffen hat. Die scandinavische Halbinsel ist größer, als Frankreich und als Groß britannien; Spanien, die Türkei sind größer als Preußen, und doch gehören jene zu den Staaten zweiten Ranges, diese zu den Großmächten. Auch die Einwohnerzahl allein ist nicht entscheidend. Das osmanische Reich zählt mehr Unterthanen, als die Monarchie Friedrichs des Großen, Spanien hat ihrer beinahe ebenso viel, und doch besteht ein ungeheurer Abstand zwischen dem Einflüsse, welchen der Divan und der Escurial ausüben und denjenigen, welchen das Cabinet zu Berlin ent wickeln könnte. Das chinesische Reich zählt so viele Millionen, wie Preußen Hunderttausende, und es ist gleichwohl völlig außer Stande, auch nur einen geringen Antheil an der Herrschaft der Welt geltend zu machen. Der Contrast zwischen kleinen Großmächten und großen Kleinmächten tritt in der Geschichte früherer Jahrhunderte noch frappanter auf, als heut zu Tage. Venedig, Portugal, die Niederlande, Schweden find alle zu ihrer Zeit Inhaber eines Einflusses gewesen, dessen sich in unseren Tagen die 5 Großstaaten, Mitglieder der Pentarchie, erfreuen, während weit volkreichere Staaten verhältnißmäßig machtlos dastanden. Die Geschichte dieser Staaten zeigt daher auch deutlicher, welches die wahren Bedingungen einer Groß- mächtsexistenz sind. Sie liegen auf dem geistigen Gebiete; sie bestehen in nationalen Vorzügen und Tugenden, welchen materielle Hilfsmittel entweder von der Natur oder durch die Anstrengungen eines wohlgeleiteten Ehrgeizes zur ' D Verfügung gestellt sind. In früheren Zeiten ergänzten die geographisch beschränkten Staaten von hochstrebendem Charakter den Mangel physischer Stärke durch Lie Eroberung von Pro vinzen oder durch die geschickte Nutzbarmachung mächtiger Allian zen; Venedig und Portugal wurden groß durch das erstere, Holland und Schweden durch das letztere Mittel: jene aber wie diese fanden den eigentlichen Lebensquell ihrer Macht in den großen und kühnen Gedanken, welche ihre Staats männer und ihre Bürger beseelten und durch die allein sie an», deren, von Haus aus nicht minder günstig ausgestatteten Staa ten den Vorsprung abgewannen. Die Ereignisse haben den Besitz der Macht mannichfaltig umgewälzt, und von den Größen des 17. Jahrhunderts find nur sehr wenige bis auf unsere Tage groß geblieben. Auf die Periode der Siege ist für viele die Zeit der Ausartung und der Erschlaffung gefolgt; andere sind nicht selbst zurückgegangen, aber sie haben nicht vermocht, mit dem rascheren Aufschwünge ihrer Nachbarn gleichen Schritt zu halten. Sehr viele Ätaate« sind heute an sich mächtiger und reicher, als zu der Zeit ihrer politischen Blüthe, und sie sind gleichwohl zu regulativer Be deutungslosigkeit herabgesunken, weil Andere sie überflügelt haben. Die Aufforderungen, welche man gegenwärtig an eine Groß macht stellt, haben sich unermeßlich gesteigert, und um ihnen gerecht zu werden, reichen nicht mehr die Kräfte tributärer Co lonien und Provinzen aus, sondern es bedarf dazu einer Fülle und Nachhaltigkeit nationaler Hilfsquellen, die man nur in großen und volkreichen Ländern beisammen findet. Nur wo ein genügendes Maß solcher Hilfsquellen im Staate selbst sich mit den erforderlichen moralischen Eigenschaf ten und mit zweckmäßigen politischen Einrichtungen vereinigt findet, ist die Grundlage für eine Großmacht gegeben. Und woran erkennt man, daß solches der Fall sei? Von einer Großmacht verlangen wir, daß sie stark genug sei, um den Angriff mindestens jedes einzelnen Gegners zurückschlagen zu können und stark genug, um einen Angriff ihrerseits oder auch nur ihre Feindschaft jedem anderen Staate als furchtbar oder doch als eine schwere Calamität erscheinen zu lassen. Nur wenn dies letztere der Fall ist, kann sie ihrem verletzten Rechte und ihrem verletzten Interesse auch widerwilligen Gegnern ge genüber Geltung verschaffen und mit Erfolg Ideen vertreten. Das vermögen Staaten zweiten Ranges wie die Großmacht Baiern nur mit Hilfe einer befreundeten Großmacht; ihre pvU»