Volltext Seite (XML)
Zucker immer noch merklich durchschmeckt, isi die: der Fall Sewastopols wiegt für das Ezarenreich schwerer, als ein« em pfindliche Niederlage, als eine verlorene Schlacht; der Fall Se wastopols fällt schwerer in's Gewicht, als «in verunglückter Feldzug auf eignem Grund und Boden. Die schweigsamste nnd geheimnißvollste aller Regierungen giebt nothzedrungen der Wahrheit, d<r wittern, verhängnißvollen Wahrheit Lie Ehre. Bei den frühern verlorenen Schlachten an der Alma, Lei In kerman und bei Traktir suchte man die Nation über den un glücklichen AuSgang im Dunkeln zu erhalten, Und man konnte das, weil jene Siege nicht so furchtbar entscheidend waren, wie der Fall SebastopolS; jene Niederlagen hatten nur die üblichen Tagesbefehle und Handschreiben zur Folge, in denen man sich bemühte, die geringen Erfolge des Feindes als «inen eignen Sieg darzustellen. Die Größe der Katastrophe in Sebastopol drückt dem Selbstherrscher aller Reußen, so unangenehm dies auch für ihn sein mag, die Feder in die Hand zu einem Ma nifeste in feierlichster Form, mit, welchem sonst nur die inhalts vollsten Augenblicke des Reichs bezeichnet werden. Der Kaiser des mächtigen Czarenreichs hat sich genöthigt gesehen, den Fall der Krimfeste nicht an die Besatzung einer einzelnen Festung, sondern „an alle Armeen Rußlands" zu richten. Man kann nicht erwarten, daß in einem so verhängniß vollen Augenblicke ein so kolossaler Militärstaat, wie Rußland ist, die aufrichtigste, rückhaltloseste Wahrheit erfahren werde. Es ist aller Welt kundig, daß der Angriff Rußlands aus die Donaufürstenthümer es war, welcher die Westmächte nöchigte, nach langem Sträuben, nach einer von den Gegnern oft genug verhöhnten Unentschlossenheit endlich den Degen zu ziehen. Diese unbezweifelre, sonnenklare Thatsache wird von dem kaiser lichen Tagesbefehle in das directe Gegentheil verkehrt. Ruß land ist ganz unschuldig und ihm ist das größte Unrecht ge schehen; denn es wird in dem Tagesbefehle von Feinden ge sprochen, „die unsre Heiligthümer, unsern Ruhm und des Vaterlands Integrität antasten", nicht anders, als ob England und Frankreich ohne alle Herausforderung das friedliche Rußland angefallen hätten, nicht anders, als ob sie in schnöder Ungerechtigkeit Ströme ihres besten BlutS und Summen von Millionen geopfert hätten, um das stille Ruß land, das nie seine Hand nach fremdem Gebiet ausgestreckt hat, mit Krieg zu überziehen und seine „Heiligthümer", insonder heit die Feste Sebastopol in unheiligem Eifer zu zerstören. Wer die Geschichte der neuern Zeit von den Petersburger Enthüllungen an bis zum Einfall russischer Gewalthaüfen in das türkische Gebiet verfolgt hat, wer das Kriegsmanifest d«S Kaisers Nicolaus gelesen und über die Vernichtung der türki schen Flotte bei Sinope erstaunt ist, wird die Politik Rußlands zu würdigen wissen, wenn er auch in Petermanns Karte von Rußland nicht gesehen hätte, wie viel jener kolossale Staat seit 100 Jahren Nachbargebiet an sich gerissen. Die kunstvollen Phrasen des Manifestes werden den, der mit offnen Augen sieht, nicht eines Andern über die russische Politik belehren. Das kaiserliche Manifest stellt den Fall SebastopolS so dar, als wenn die Bezwingung der ungeheuren Feste am schwar zen Meere nur daher glommen sei, daß «an sich unter unbe siegbare Naturgewalten habe beugen müssen, als ob der sterbliche Mensch höhern Elementar'kräftrn erlegen sei, etwa wie daS Napokedn'sche Heer im Jahre 1812 in VtüßlaÄ» durch die Schrecknisse des nordischen Winters, wie die spanische Armada unter Philipp H durch einen furchtbaren Sturm ver nichtet wurde; denn es schreibt von einem „Bowbardemmt, dessen Feuer mit Recht ein höllisches genannt worden sei"; eS erinnert daran, „daß eS auch für Helden Unmögliches giebt". Letzteres ist vollkommen wahr, auch geben wir gern zu, daß die Besatzung von Sebastopol, wenn sie sich auch nicht selbst anfgespeist hat, wie einige Osfiriere derselben anfangs fabelten, das Compliment verdient, welches kn diesen Wodteu liegt. Allein damit wird die Thatsache nicht verschleiert, daß Rußland in der Krim nicht durch ungünstige, unwiderstehliche Naturgewalten besiegt worden ist; Sebastopol ist nicht durch ein übermenschliches Geschick, sondern ganz einfach aüf dem natürlichen und gewöhnlichen Wege von den Waffen seiner- tapfern Gegner besiegt worden. Rußland, das unüberwindliche, hat seinen Meister gefunden, und seine stärkste Festung ist der beharrlichen Belagerung zweier feindlicher Heere erlegen. Wir glauben nicht, daß daS Manifest sagen will, Rußland hatte ist unter keinen Umständen vermocht, Sebastopol, den Angel punkt seiner Herrschaft über daS schwarze Meer gegen den Angriff zweier frrnliegenden Staaten zu vertheidigen, denn eS ist ja bekannt genug, daß die Heere der Verbündeten unter deü ungünstigsten Umständen an'S Werk gehen -mußten, und daß fit ihr Unternehmen gegen eine ungeheuer gerüstete Festung durch Mangel an Vorsicht und Sachkunde sehr gefährdeten. ES muß zugestanden werden, daß sich die Besatzung Se- bastopolS sehr tapfer und brav bewiesen hat, aber die Geschichte wird ganz andre Folgerungen aus dem Falle jener außeror dentlichen und an Waffen und Dorräthen überfüllten Pontus- feste ziehen. Sie wird sagen, daß Fürst Gortschakoff dem Feindt nicht „ blutgetränkte Ruinen," sondern die erste Festung deS Reichs mit erheblichen Vorrathen, mit zahlreichen Geschützen und Munition und mit einer ganzen Flotte preiSgeben mußte, welche bestimmt war, daS schwarze Meer zu beherrschen und Rußlands Herrschaft nach dem Süden hin zu erweitern. Die Geschichte wird sagen, Laß Rußlands Plane durch die Vernich tung jener kostspieligen Feste und Flotte um 50 Jahre zurück verschlagen sind. Und warum ist Rußland solches Unglück ge kommen? Weil es nicht Einsicht und Kraft genug besaß, um 100,000 Angreifer von der halben Quadratmeile eines gebirgi gen und felsigen Küstenlandes zu verdrängen, auf welcher sie gewagt hatten, sich einzunisten. An diesem verhängnißvollen Mangel ist alle Tapferkeit zu Grunde gegangen, die hinter den Bollwerken SebastopolS auf eilf Monate lang Stand hielt. Cs kann kein leichter Act gewesen sein, den sämmtlichen Armeen Rußlands den Fall der wichtigsten Seefeste zu verkün digen. — « — Zur Abhilfe der Roth des Arbriterstattdes. Leipzig, 26. Sept. So sehr auch die große geschichtliche Tragödie deS Orient« unsere Aufmerksamkeit fesselt und unS mit Langen Sorgen für die nächste Zukunft erfüllt, so dürfen.