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Freiberger Anzeiger und ' Tageblatt. Erscheint jeden Wochentag früh S Uhr. Preis vierteljährlich 15 Ngr. — Jnseraic werden an den Wochentagen nur bis Nachmittags 3 Uhr - . für die nächstcrscheinende Nummer angenommen und Lie gespaltene Zeile mit 5 Pfennigen berechnet. 90. Donnerstag, den 18. August 1855. Ansichten und Aussichten. Wie im gewöhnlichen Leben, so ist es auch in der Politik eine Regel der Klugheit, den Gegner, mit dem man es zu thun hat, niemals zu unterschätzen, und vor der Zukunft nicht die Augen zu verschließen. Auch die Gegenwart erinnert lebhaft genug an diese Regel. Es wäre, um gleich zur Sache selbst überzugehen, eben so thöricht, Rußlands Offenfiokrafr zu über schätzen, als es lächerlich und nachtheilig ist — die Beweise lie gen bereits vor —, aus politischem Haß oder nationaler Anti pathie gegen das große Slavenrcich, dessen innere Stärke, De vensivkraft und unermeßliche Kriegsmittcl, die furchtbaren Ele mente, die es besonders in seinen roh erzogenen, religiös und national entzündbaren und begnsterungsfähigcn Massen besitzt, wegleugnen oder verkleinern zu wollen. Schwachköpfige Leute und matt gewordene Nationen verfallen so leicht in den komi schen Fehler, Alles, was sie hassen oder fürchten, herabzusetzen. Dgher ist es in der jüngsten Zeit so oft vorgekommen, sich den jungen nordischen Riesen als einen Invaliden in der Einbil dungskraft auszumalen, vielleicht nur, um die peinliche Angst vor seinem furchtbaren Wachsthum loszu werden. Centraleuropa hat sich ganz vorzüglich vor Lieser Täuschung zu bewahren, da mit es nicht irgendwie dieselbe schlimme Erfahrung mache, wie England. Wie oft hat man in den englischen Blättern die Be hauptung gelesen —deutsche Blätter und Schriften haben es weidlich nachgcdruckt — : Rußland sei bei seinen schlechten Fi nanzen kaum im Stande, auch nur 6 Monate einen Krieg mit Gegnern, wie Engländer und Franzosen seien, auszuhaltcn. Der Reisende Oliphant, trotzdem, daß er Militär ist, ein schauer licher Schwätzer über die militärischen Positionen Rußlands in der Krim, spricht z. B. über Sebastopol, als wäre es ein Platz, den man „im Hemdeärüiel des berühmten Karlchen*)" nehmen könne; er spricht mit völliger Mißachtung von der Bauart der russischen Forts und Batterien, die mit ihren „elenden Case matten beim ersten Bombardement oder gar durch die Erschüt terung ihres eigenen Feuers zusammenstürzen würden." Man muß dieses Reisemachwerk gelesen haben und den Verhandlun gen gefolgt sein, die im englischen Parlamente auf Grund dieser Auktorität geführt wurden, um die Nachlässigkeit und den Leicht- *) Bekanntlich der englische Spottname des Admirals Napier, seitdem er so rühmlos aus der Ostsee heimkchrte. sinn, der sonst den Engländern nicht eigen ist, zu begreifen, mit welchem diese Nation den Krieg gegen Rußland unternahm. Ihre tapferen Söhne haben schwer dafür büßen müssen: die Engländer haben ihr Landheer verloren, sie haben eine mora lische Niederlage in den Augen der Welt erlitten und, was das Allerempfindlichste für sie ist, sie find dem Kaiser der Franzose» in die Hände gegeben worden. Warum hörte man aber nicht lieber auf den Marschall Marmont, der in seinem Reisewerke wahrbaftiz als competenter Richter über Sebastopol geurtheilt und erklärt, daß es ein mächtiges Bollwerk sei? Das paßte nicht in den Kram der Leute, die das Parlament und die Mi nister zugleich beherrschten und um jeden Preis Krieg habe» wollten, um den nordischen Coloß von seinem „thönernen Fuß- gcstelle" herabzustoßen. Wir »vollen aus der englischen Ersah» rung eine Lehre für uns ziehen, deren Benutzung die Zukunst uns sehr leicht zur Pflicht machen kann. — Wird Frieden wer den, wenn man Sebastopol nimmt? Wer möchte diesen Wunsch nicht hegen? Leider ist daran nur allzusehr zu zweifeln. Außer vielen andern Gründen wird dieser Zweifel gerechtfertigt durch folgende. Als man dem Kaiser Alexander 1812 die Verbren nung Moskau's und Napoleons Friedensanträge meldete, sagte er: „Bevor ich durch Frieden mit Napoleon die Schande mei nes Vaterlandes unterschreibe, will ich meinen Bart bis hier her (auf seine Brust deutend) wachsen lassen und im Innern Sibiriens von trocknem Brote leben*)." Und Alexander war bekanntlich kein harter Charakter. Und nicht ohne prophetischen Sinn sprach in derselben Zeit Napoleon I.: „waldeur a I'Lu- roxe si uo Orar reAno gui porte la darbe.**)" Wird, ja kann auch nur ein russischer Czar der Gegenwart anders denken? Der Kampf um Sebastopol hat die orientalische Frage zur Zeit ganz in den Hintergrund treten lassen: er ist soeben nur ein kolossales Duell mit Kanonen. Lord Ruffel erklärte in diesen Tagen dem englischen Parlament, daß dieser Kampf eine reine Ehrensache der Alliirten geworden sei. Nehmen wir nun auch den Fall Sebastopols an, ist damit etwa die orientalische Frage entschieden? nein, sie tritt nun erst recht wieder in den Vorder grund, sowohl rücksichtlich der Oberherrschaft in Asien, als der *) Der Kaiser sprach diese Worte zum Obersten Michaud ; sie stehen bei Daniclewski in „der Geschichte des Krieges von 1812.^ **) „Wehe Europa, wenn ein Czar regiert, der sich den Bart, wachsen läßt."