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Freiberger Anzeiger und Tageblatt. Erscheint jeden Wochentag früh 9 Uhr. Preis vierteljährlich IS Ngr. - Inserate werden an den Wochentagen nur bis Nachmittag« 3 Uhr für Lie nächsterscheinende Nummer angenommen und die gespaltene Zeile mit S Pfennigen berechnet. Dienstag, den 17. Juli 1855. Der gegenwärtige Krieg in seiner historischen Bedeutung. Es ist nothwendig, von Zeit zu Zeit wieder an Lie Ge sichtspunkte zu erinnern, welche bei der Beurtheilung der um uns her vorgehenden großen Ereignisse maßgebend sein müssen. In dem Gedränge der einzelnen vorübergehmden Thatsachey zersplittert sich die Aufmerksamkeit, indem sie sich untergeordne ten Details zuwendet, und sie gcräth in Gefahr, die Haupt sache aus dem Auge zu verlieren. Daher kommt es, daß im Allgemeinen das Urthcil vor der Eröffnung des Krieges ruhiger, unbefangener und eben deshalb auch durchgängig richtiger war, als heutzutage. Der grüne Mamelon, Kertsch, Anapa sind ge wiß sehr erhebliche Elemente in der Geschichte des diesjährigen Feldzugs; die schriftlichen Erklärungen der einzelnen Cabinette über ihr Verhältniß zu Ler obschwebenden Krisis, die Protokolle der Wiener Conferenzen, die Aeußerungen der englischen Partei führer im Parlamente nehmen sicherlich mit Recht eine gewisse Beachtung in Anspruch, aber alle diese Einzelheiten sirid doch nur auftauchende und wieder verschwindende Strudel in dem breiten und tiefen geschichtlichen Strome, der vor unseren Blicken vorüberfluthet. Wir überlassen es billig Len Börsenspeculanten, deren Horizont gemeiniglich nur bis meäio oder bis ultimo je des Monats reicht, diejenigen Begebenheiten vor Allem wichtig zu finden, welche auf einige Wochen und Monde Sensation zu machen geeignet sind. . j Von Anfang an hat Lie orientalische Krisis sich von allen anderen Verwicklungen, Lene« seit 1815 der Welttheil ausgesetzt gewesen ist, gründlich verschieden gezeigt. Frühere Krisen ent standen entweder aus Principienconflicten, wie z. B. die spa nische im Jahre 1822, oder sie verdankten doch ihnen ihre wei teren Wirkungen, wie der spanische und portugitsische Erbfolge streit, wie die Uuabhängigkeitserklärung Belgiens, wie Lie ita lienischen Bewegungen der zwanziger, dreißiger und vierziger Jahre. Selbst der Polenaufstand von 1830 und seine späteren Ausläufer bis zu der Einverleibung Krakau's hin erregten mehr ein künstliches oder sentimentales, als ein wirklich politisches Interesse, dessen Nichtigkeit sich kaum deutlicher verrathen konnte, als durch die stereotype Fruchtlosigkeit deS alljährlich wieder-, kehrenden Polen-Paragraphen der Antwortadreffe, mit welcher die französischen Kammern .auf die Thronrede zu erwidern ge wohnt waren. Es soll nicht geleugnet werden, daß auch in diesen Fällen neben den Principien auch Interessen im Spiele waren. Oesterreich z. B. beschützte, indem eS die Legitimität vertheidigte, gleichzeitig seine Territorialherrschaft in der Lom bardei und in Venedig und seine Secundogenituren kn Tos cana und Modena; Frankreich und England hatten ihren po litischen Einfluß im Auge, als sie in Madrid die konstitutionelle Königin unterstützten und in Brüssel einen Coburger und eine Orleans auf den Thron erhoben; die östlichen Cabinette endlich erblickten in der Besiegung der polnischen Insurgenten nicht allein einen Triumph über die Revolution in abstracto, sondern auch eine Sicherung der von ihnen abgetretenen Erbschaften. Aber doch beherrschte der Zwiespalt zwischen den absolutistischen und den konstitutionellen Systemen damals die ganze Politik; dieser Zwiespalt theilte Europa in zwei große Gruppen, und nur was in irgend einer Weise mit ihm in Beziehung stand, konnte ein allgemeineres Interesse erregen. Ganz anders verhält es sich mit der orientalischen Frage. Hier treten augenblicklich die Doktrinen, die Principien in den Hintergrund, und die realistischen Interessen gelangen beinahe ausschließlich zur Sprache. Instinktmäßig gleichsam fühlt die Welt, daß es sich nicht mehr um Staatsformen han delt, sondern um Herrschaft und Macht. Die Demokraten Amerika's sympathisircn mit Rußland, das absolutistische Frank reich verbindet sich mit dem freien England; das Cabinett zu Wien vergißt seine Antipathien gegen Bonaparte und seine Be- / schwerden gegen Großbritannien. Wir fühlen uns an den drei ßigjährigen Krieg erinnert, in welchem auch die großen princi, piellen Gegensätze, Katholicismus und Protestantismus, allmälig vor den weltlichen Machtfragen verschwanden. Wir sehen Li berale, ehemalige Gothaner und Revolutionäre gemeinsam die Politik Preußens billigen; wir sehen nicht minder Reactionäre und Freisinnige auf Seiten Oesterreichs stehen. ' Freilich in letzter Instanz hat auch die Vertheilung der ' Macht wieder ihre hohe Bedeutung. Für die Entwicklung der- Staaten und Völker, für die Wohlfahrt des Menschengeschlechts, für den Sieg der guten und gerechten Ideen ist eS nicht gleich-- ? gültig, welche Nationen mächtig, welche schwach find. UMf wird nicht yiel daran liegen, ob Spanien oder ob Portugal die größere Halste der pyrenaischen Halbinsel inne habe, aber wir sind auf das Lebhafteste dabei betheiligt, wenn z. B. eine rein katholische oder eine absolut demokratische oder «ine ganz, kulturlose Nation «in Uebergewicht über alle andern.