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Freiberger Anzeiger * und Tagevlatt. Erscheint jeden Wochentag früh 9 Uhr. Preis vierteljährlich 15 Ngr. — Inserate werden an den Wochentagen nur bi« Nachmittag« Z Uhr» für die nächsterscheinende Nummer angenommen und die gespaltene Zeile mit 5 Pfennige» berechnet. Mittwoch, den 24. Januar 1855 Die ungehörige Anklage der Westmächte. Nichts Ungereimteres giebt es, als die oft gehörte Bemer- ung: Engländer und Franzosen hätten bei dem gegenwärtigen Kriege gegen Rußland lediglich ihr eigenes Interesse im Auge md es falle ihnen gar nicht ein, für die höheren Ideen des Hechtes und der Ehre oder für den Vortheil ihrer übrigen uropäischen Mitmenschen das Schwert zu ziehen; daher man Deutschland nicht zumuthen könne, an einem Kampfe Theil zu nehmen, bei dessen Eröffnung man auf die deutschen Anliegen M keine Rücksicht genommen habe. Man kann die Berechnung der Procente-Antheile, welche khr- und Rechtsgefühl an den Entschließungen des Pariser nd Londoner Hofes gehabt haben, jedenfalls nicht genau auS- echnen, und daher füglich ganz auf sich beruhen lassen und ich damit zufrieden geben, daß das Ergebniß dieser Entschlie- ungen dem Rechte und der Ehre zu Gute gekommen ist. Herz nd Nieren zu prüfen, ist nicht Sache der Sterblichen. Daß m vorliegenden Falle Ehre und Recht mit dem Interesse Hand n Hand gingen, ist unbestreitbar, aber es ist nicht abzusehen, ,ie man daraus den Engländern und den Franzosen einen Zorwurf machen kann. Der Umstand mag den Ruhm ihrer lnstrengungen schmälern, weil es glorreicher ist, ein fremdes Interesse zum Nachtheil des eigenen zu vertreten, wenn ein öheres Gebot es erheischt, als den eigenen Vortheil mannhaft u verfechten; aber es ist bisher noch nicht bekannt gewesen, aß die Wahrnehmung des eigenen Nutzens ohne Kränkung er Rechte Drisser Schimpf bringe. Im Gegentheil, die Ge- chichte hat bisher diejenigen Regenten und Staatsmänner am öchsten gepriesen, welche unermüdlich für den Vortheil ihrer vtaaten wirkten und strebten. Man kann stark bezweifeln, ob ie britischen Minister und Kaiser Napoleon III. für einen Illiirten, wie die Türkei, so unermeßliche Opfer auf sich ge- lvmmen hätten, wenn es sich bloß um Recht oder Unrecht han- elte, wenn nicht die Sicherheit der eigenen Staaten so ehr in den Vordergrund träte; wir unsern Theils glauben nicht m die völlige Uneigennützigkeit der Herren Franzose« und Eng- Lnder, aber jene Zweifel wird man mit dem nämlichen Rechte mf beinahe alle gtoße Thaten der Geschichte, deren Segnungen oir gleichwohl dankbar erkennen, auf Gustav Adolfs Zug nach Deutschland, auf die Schwetenkriege des großen Kurfürsten, auf ftirdrichS des Zweiten Feldzüge, auf Pitts gigantischen Kampf gegen Napoleon I. wie auf unsern eigenen Befreiungskrieg anwenden können. Die Akte völliger Selbstverleugnung sind im Privatleben schon selten genug; von Staaten find sie kaum jemals zu erwarten, weil selbst die großartigste Aufopferung für das Wohl eines Anderen eigentlich nur dem gestattet ist, der sie mit seiner eigenen Person bezahlt, Staatsmänner aber nur meistentheils in der Lage sind, das Glück und daS Leben Anderer, das Wohl der Staaten zu opfern, denen sie dienen. Da man aber mit fremdm Gütern keine Geschenke machen darf, so glauben wir auch aus diesem Grunde nicht an die Uneigen nützigkeit der Staaten. Der Staatsegoismus ist daher auch von jeher in einem ganz anderen Ächte betrachtet worden als der Privat- egoismus. Wenn er nur Unrecht zu thun vermeidet, waS dem Privatmanne von selbst geboten ist, wird er schon gepriesen. Und wenn der Staat auS übertriebenem Zartgefühl erlaubten Vortheil zu verfolgen verzichtet, was dem Privatmanne eher zum Lobe gereicht, so verfallen die Leiter desselben gerechte« Tadel. Mit richtigem Takte unterscheiden die Menschen die" Leidenschaft für ein Allgemeines von dem niederen Triebe per sönlicher Befriedigung, wenn auch die Geschichte gar viele Bei spiele aufgestellt, daß Staatsmänner, indem sie den Vortheil ihrer Staaten suchten, ihrem eigenen Ehrgeize Weihrauch an» zündeten. Aber selbst Ehrgeiz ist oft ein nothwendigeS Uebel, wo es gilt, große aufopfernde Thaten zu thun. Der hauptsächliche Gesichtspunkt, welcher England und Frankreich in Waffen vereinigt hat, ist ohne Frage ein egoi stischer, aber er ist egoistisch in dem eben angedevteten Sinne. Beide Staaten vertheidigen ihr eigenes und diesmal zugleich das allgemeine europäische Interesse, was mit dem vori gen zusammenfällt; sie vertheidigen das europäische Interesse, welches darin besteht, Rußlands Uebermacht zu beschränken und seine Gefährlichkeit für den Frieden des WeltheilS zu beseitigen. Bei der Erreichung dieses Zieles sind allerdings sie selbst sehr wesentlich interessirt, aber die übrigen Länder Europas sind es nicht minder; einige sind' es vielleicht noch in höherem Grade. Es ist vollkommen natürlich, daß man in London und in Paris vorzugsweise diejenige Seite der Gefahr zunächst ins Auge faßt, welche Frankreich und England die asiatischen Wege, die nach Indien führen, Frankreich die See straßen, welche vonSebastopol und Konstantinopel in das mittelländische Meer führen, vor der Allein»