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Nr. 55/1912 PAPIER-ZEITUNG 1995 b Es ist leider schon sehr viel kostbare Zeit verflossen, während welcher gewisse, namentlich auch hochschutzzöllnerische Kreise die öffentliche Meinung mit teilweise recht bedenklichen Ver lautbarungen über die Meistbegünstigungsklausel beeinflussen konnten, ohne mit dem nötigen Nachdruck berichtigt zu werden. Man hat es so hingestellt, als ob die ungünstigen Handelsverträge ausschließlich auf Rechnung der Meistbegünstigungsklausel zu setzen seien, und als ob man nur die Meistbegünstigungsklausel über Bord zu werfen oder doch einzuschränken brauchte, um zu erträglichen zollpolitischen Verhältnissen zu kommen. Es ist höchste Zeit, daß diesen gefährlichen Ausstreuungen, die zum Teil nur als Deckmantel hochschutzzöllnerischer Bestrebungen anzusehen sind, durch eine umfassende Aufklärung der beteiligten Kreise der Boden entzogen wird. Der (keineswegs neue) Streit um den Wert der Meistbegünstigungsklausel hat namentlich wieder eingesetzt nach dem Abschluß des deutsch-schwedischen Handelsvertrages. Man hat gesagt, Schweden wußte von vorn herein, daß es von Deutschland das Recht der Meistbegünstigung und damit den Mitgenuß aller jener Zollerleichterungen erhalten würde, die wir anderen Staaten eingeräumt haben, mit denen wir früher schon Handelsverträge abgeschlossen haben. Weitere Zollermäßigungen habe Deutschland, wenigstens in nennens wertem Umfange nicht zugestehen können, und so habe für Schweden jeder Anreiz gefehlt, uns größere Zugeständnisse auf Seiten des schwedischen Tarifs zu machen. Wir seien also, da wir unter unseren Vertragstarif nicht mehr heruntergehen konnten (was freilich bezweifelt werden kann), sozusagen mit leeren Händen in Handelsvertragsverhandlungen mit Schweden eingetreten. Ganz genau dasselbe sei der Fall gewesen, als wir vor einigen Jahren mit Spanien und mit Dänemark Handels vertragsverhandlungen begannen, die sich bekanntlich infolge mangelnder Zugeständnisse Spaniens und Dänemarks zerschlugen. Es sei auch der Fall gewesen beim Abschluß jenes vielbeklagten deutsch-portugiesischen Handelsvertrages, der Portugal viel mehr Vorteile gebracht hat als Deutschland, und es würde wieder der Fall sein, wenn wir einen Vertrag schließen wollen mit den Niederlanden, wo jetzt ein hochschutzzöllnerischer Zolltarif vorbereitet wird. Auch gegenüber der Zolltarifrevision in Frank reich seien wir machtlos gewesen, da wir Frankreich über die Meistbegünstigung hinaus nichts zu bieten hatten. Es fehle also für Frankreich jeder Anreiz, mit uns einen Tarifvertrag abzuschließen, da es ja auf Grund des Frankfurter Friedens für „ewige” Zeiten im Besitz der Meistbegünstigung steht. Eben so würden die Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und namentlich das aufstrebende und für uns von Jahr zu Jahr wichtigere Argentinien keine Neigung bezeigen, mit uns einen Tarifvertrag abzuschließen, solange diese Länder wissen, daß ihnen die Meistbegünstigung so wie so zufällt, und daß sie weitere Zugeständnisse von Deutschland über den Vertragstarif hinaus nicht erlangen können. Aus diesem Grurde soll nun die Meistbegünstigung einge schränkt werden; es soll aber auch im Zusammenhang damit bei der Neugestaltung des deutschen Zolltarifs ein viel höherer Generaltarif eingeführt werden, der einen größeren Spielraum bei Gewährung von Zugeständnissen an das Ausland gewährt. Dabei soll speziell auch die Feinindustrie mit höheren Zöllen bedacht werden. Sodann soll der deutsche Zolltarif viel mehr spezialisiert werden, damit Zugeständnisse an das Ausland in ihrer Wirkung beschränkt bleiben, und es soll auch die Reihen folge, in welcher mit den einzelnen Staaten Vertragsverhandlungen eingeleitet werden, geändert werden. Es sind hauptsächlich zwei Gruppen, von denen diese Wünsche ausgehen, nämlich der hochschutzzöllnerische Central verband Deutscher Industrieller und der Bund der Industriellen, der früher einmal eine Zeitlang in einer „Interessengemein schaft” mit dem Centralverband stand und dessen Haltung in der Zollpolitik von jeher nicht ganz sicher war. Das lebhafte Eingreifen des Centralverbandes macht nun die Agitation von vornherein etwas verdächtig. Namentlich die Forderung eines viel höheren Generaltarifs läßt befürchten, daß es dem Central verband, der ja die Interessen der hochschutzzöllnerischen Kreise, der Roh- und Halbstoffindustrien vertritt, weniger darum zu tun ist, für gute Absatzbedingungen im Ausland zu sorgen, als vielmehr den inländischen Markt durch möglichst hohe deutsche Zölle zu schützen. Dabei muß man berücksichtigen, daß der Centralverband stets behauptet, es seien bei den letzten Verträgen die deutschen Zölle viel zu stark herabgesetzt worden; er beabsichtigt also eine Erhöhung der deutschen Vertragszölle, was für die weiter verarbeitende Industrie eine Verteuerung ihrer Produktion bedeuten würde. Um nicht den Gedanken aufkommen zu lassen, daß es dem Centralverband hauptsächlich um eine Erhöhung der Schutzzölle für die Roh- und Halbstoff industrien zu tun ist, behauptet er stets auch, daß die deutschen Vertragszölle auf Erzeugnisse der Feinindustrie bei den letzten Verträgen viel zu weit herabgesetzt worden seien, und daß eine Erhöhung dieser Zölle notwendig sei. Damit sollen dann offenbar die Kreise der Feinindustrie für die Politik des Centralverbandes und die von ihm gewünschte Aenderung unseres handelspoliti schen Systems gewonnen werden. In dieselbe Kerbe schlägt nun leider auch der Bund der Industriellen, der etwas verschämt einen „wirkungsvollen autonomen Zolltarif” und ebenso wie der Centralverband eine viel größere Spezialisierung des Tarifs wünscht. Was diese Frage der Gestaltung unseres autonomen Zoll tarifs anlangt, so werden wir uns hierüber, soweit die Erzeugnisse der Papierverarbeitung in Betracht kommen, noch im nicht öffentlichen Teil unserer heutigen Sitzung zu unterhalten haben. Hier sei nur auf einen Punkt hingewiesen, der für die Frage einer Zollerhöhung der Roh- und Hilfsstoffe von besonderer Bedeutung ist. Wenn wir — unter dem Vorgeben, bei Handels vertragsverhandlungen größeren Spielraum zu schaffen — unseren Zolltarif wesentlich erhöhen, so schalten wir den Reichs tag bei der endgültigen Bemessung des deutschen Zollschutzes in noch viel stärkerem Maße aus, als es ohnehin der Fall ist; denn der Reichstag hat nur die Macht, bei der Gestaltung des autonomen Zolltarifs mitzuwirken, weil eben dieser Tarif ein Gesetz ist; an der Gestaltung des Vertragstarifs kann er aber nur insofern mitwirken, als er die von der Regierung abge schlossenen Verträge en bloc annehmen oder en bloc ablehnen kann. Von einer Aenderung der abgeschlossenen Handelsverträge im einzelnen kann bei der Beratung im Reichstag keine Rede sein. Die Gestaltung unseres Vertragstarifs hängt also aus schließlich von unserer Reichsregierung ab, und wenn diese Reichsregierung sich weniger von den Kreisen der Verfeinerungs industrien beeinflussen läßt, als vielmehr, wie es jetzt tatsächlich der Fall ist, von den Agrariern, dem hochschutzzöllnerischen Centralverband und auch von dem Wirtschaftlichen Ausschuß, in dem die Agrarier und industriellen Hochschutzzöllner über wiegen, dann hätten wir damit zu rechnen, daß die deutschen Zölle und zwar die Vertragszölle in Zukunft wesentlich höher werden als die jetzigen Zölle. Die Forderung wesentlich erhöhter Verhandlungszölle ist also, soweit die Zölle auf Roh- und Halb stoffe und auch auf Lebensmittel in Betracht kommen, in höchstem Grade bedenklich, und die Verfeinerungsindustrien werden sehr reiflich zu überlegen haben, ob sie die Wünsche nach einer allgemeinen wesentlichen Erhöhung unseres General tarifs so ohne weiteres unterstützen dürfen. Da nun die Forderung erhöhter Verhandlungszölle in neuerer Zeit immer im Zusammenhang mit den behaupteten Nachteilen der Meistbegünstigungsklausel erhoben wird, so ist es not wendig, darauf hinzuweisen, daß die Gegner der Meistbegünsti gungsklausel in der denkbar einseitigsten Weise zu Werke gehen. Sie behandeln die Frage der Meistbegünstigung immer von dem einen Standpunkt, aus, daß wir die Meistbegünstigung anderen Staaten gewähren; sie übersehen aber vollständig die andere Seite der Frage, nämlich welche Vorteile und Nachteile daraus für uns erwachsen, daß ja immer auch die anderen Staaten uns die Meistbegünstigung gewähren, daß wir also — ebenfalls ohne irgendwelche Opfer — an denjenigen Zugeständnissen teil nehmen, die ein ausländischer Staat einem dritten Staat ge währt, und diese Zugeständnisse sind keineswegs unwesentlicher Art. Denn die ausländische Diplomatie hat nicht selten bei Handelsvertragsverhandlungen ein größeres Geschick entfaltet als die deutsche, und wir haben dann die Erfolge der ausländi schen Diplomatie mitgenossen, ohne unserseits Zugeständnisse machen zu müssen. Der eigentliche Wert der Meistbegünstigung, um dessent- willen sie die Grundlage unseres handelspolitischen Systems geworden ist, besteht aber darin, daß uns die Meistbegünstigung unter allen Umständen die Sicherheit bietet, daß wir in den meist begünstigten Ländern niemals schlechter als irgend ein anderer Staat gestellt werden können. In einer Erklärung des Aus schusses des Deutschen Handelstages wird sehr richtig bemerkt, daß unter Umständen die Gleichstellung mit dritten Staaten von noch größerer Bedeutung ist, als die Beseitigung oder Milde rung von Zöllen und anderen Erschwerungen unserer Ausfuhr. Haben wir von anderen Staaten besondere Zugeständnisse unter eigenen Opfern auf Seiten des deutschen Zolltarifs er halten, so können diese letzten Opfer vollständig nutzlos ge bracht sein, wenn dritte Staaten noch besser gestellt werden