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Die Geschwister. Nvman von Jeanne Mairet. (Fortsetzung.) 6. ^er Journalist Durieu verfolgte mit freundschaftlicher Neu gierde die geistige Entwicklung seines jungen Landsmannes Camillo Devrilliers. Er hatte schon so manches junge Talent, das sich rasch entfaltet und ein Genie zu werden verspro chen, sich nicht nur in Mittelmäßigkeit verflachen und vom littera- rischen Himmel verschwinden sehen, sondern es war ihm anch vor gekommen, daß manch derartiger Musensohn in Elend und Schande endete. Leute, die wirk lich einiges Talent be saßen und zu früh mit noch nicht gereiftem Geiste in den Strudel des Lebens hinausge- drängt wurden, bevor sie ihren Charakter hin reichend befestigt hat ten, um dem verführe rischen Treiben des Pa riser Lebens die Stirne bieten zu können, leuch teteil mitunter eilt hal bes Jahr lang am lit- terarischen Himmel der Metropole und gerieten dann rasch in Vergessen heit. Zuweilen fragte man noch, was ans dem Schreiber mit dem tol len Wesen geworden ist, aus dem Maler, wel cher dazu berufen ge schienen, der Delacroix unseres Jahrhunderts zu werden, aus dem Musiker, welcher in die Fußstapfen eines Wag ner getreten? — Aber Antwort erhielt man keine mehr auf solch forschende Frage. Was aus jenen Lieblingen des Tages geworden — das Hospital könnte zu weilen, dieJrrenanstalt viel öfter Auskunft da rüber geben, auch die lange Liste der Selbst morde ist mit derlei zu Grund gegangenen Ge nies innig verwoben. Wenn das Elend ein schlechter Ratgeber ist, so diirfte allzu rascher Erfolg als ein noch weit schlechterer und unge rechtfertigterer bezeich- Gcstcltter .Hirsch. (Mit Text.) »et. Werden; zuweilen vernarrt sich das Publikum, ohne daß man dafür einen triftigen Grund anzugeben wüßte, in einen Schriftsteller oder in irgend einen anderen Künstler nnd da die Mode heute extra vaganter ist denn je zuvor, redet man schon bald nicht mehr von einem vielversprechenden Talent, sondern nur von einem unver gleichlichen, noch nie dagewesenen Genius. Weshalb sollte man nicht an das glauben, was ja zu glauben so süß ist, und das vom Glücke verwöhnte Kind bereitet den zweiten zu veröffentlichenden Band, das zweite auszustellende Bild vor. Inzwischen hat die Mode gewechselt, der geniale Mann vom verflossenen Jahre ist jetzt zum Rattenfänger herabgesnnken und ver geblich müht er sich, d e allgemeine Aufmerk samkeit ans sich zu zieh en, vergeblich ist er ent rüstet, vergeblich beteu ert er, daß sein zweites Werk besser sei als sein erstes. Und wenn er mit seinem Aussprüche auch zehnmal im Rechte ist, nützen wird es ihm doch nichts und alle Entrü stung, welche er empfin det, ist vergeblich. Je nach seiner Natur be- guemt er sich dann da zu, die Stufen der mit stolzem Selbstbewusst sein emporgeklommenen Leiter wieder hinabzu steigen, sich irgend einem bescheidenen Bernfe zu widmen, oder, wenn die Täuschung zu grausam ist, widersteht das arme, ans dem Gleichgewicht gehobene Gehirn der selben nicht nnd ein neues Unglück gesellt sich zu den übrigen. Dnrieu fragte sich, als der Roman seines jungen Freundes einen Erfolg erzielte, der die bereits accreditierten Schriftsteller zu beun ruhigen anfing, was für den jungen Mann, wel cher mitdreiundzwanzig Jahren ans dem dunk len Nichts empvrgehv- ben worden war, sich weiter für Resultate er geben würden. Dnrieu kannte das Werk schon längst, Camillo hatte ihm dasselbe in all sei nen einzelnen Kapiteln vorgelesen und die Er fahrungen des reifen