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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 28.08.1900
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1900-08-28
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19000828021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1900082802
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1900082802
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1900
-
Monat
1900-08
- Tag 1900-08-28
-
Monat
1900-08
-
Jahr
1900
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Ebendaselbst werde auch ein Verproviantirungsdienst für die verbündeten Truppen eingerichtet, welche Peking besetzt haben. Eine Abtheilung des japanischen GeniecorpS sei in Taku gelandet und werde damit betraut werden, die Eisenbahnlinien jwieder herzuslellen. Der amerikanische Gesandte Conger telegraphirte gestern auS Peking über Taku: Seil meiner letzten Depesche sind keine wichtigen Bewegungen erfolgt. Die Militärbehörden bemühen sich, die Ordnung wieder herzustellen. Bisher ist noch kein Vertreter der chinesischen Negierung hier aufgefunden worden, es sollen jedoch mehrere Beamte des Tsung-li-Iamen in Peking sein und man erwartet, daß sie bald an die Oeffentlichkeit treten werden. Die Generale der Verbündeten haben beschlossen, den Kaiserpalast nicht zu betreten, sondern ihn unbesetzt zu lassen. Heute sind 2000 Deutsche hier eingetroffen. Große Schaaren von Boxern sammeln sich fünf deutsche Meilen nordöstlich von -)angtsun. (Mittcwcgs zwischen Tientsin und Peking.) Die Eisenbahn Tientsin—Hangtsun ist wieder hergestellt, so daß Truppen- nnd Proviantnachschübe sich leicht ermöglichen lassen. Man sieht aber, daß die Chinesen nach Ueberwindung des ersten Schreckens von allen Seiten wieder herandränge» und den Kampf durchaus nicht aufgeben. Tcr Kaiser-Palast. Von großer Bedeutung ist der Beschluß der Generale, den Kaiserpalast nicht zu betreten. Es sei nochmals daran erinnert, daß den südlichen Sladttheil von Peking die Chinesenstadt in der Gestalt eines Rechtecks einnimmt, dessen Langseiten wcstöstlich gerichtet sind; daran schließt sich nach Norden die etwa quadratische Talarenstadt, mitten in ihr liegt die viereckige kaiserliche Stadt und in ihr als letztes Quadrat die verbotene oder Purpurstadt mit den Kaiserpalästen. Wir hatten gehört, daß die ver bündeten Truppen am 18. August die kaiserliche Stadt eingenommen und die dort in der Peitangkathcdrale be lagerten eingeborenen Christen nebst ihrer kleinen französisch italienischen Schutzwache befreit hätten. Dann war die ver botene Stadt angegriffen worden, aber die Truppen der Mächte hatte» an den Mauern Halt gemacht, weil ihre Befehlshaber beschlossen hätten, die Paläste der kaiserlichen Familie zu schonen. Ueber dem Westthore der ver botenen Stadt wurden neben einander die russische und die französische Flagge gehißt. Alle Kenner der Ver hältnisse stimmen mit dem Berichterstatter der „Times" in Peking darin überein, daß der Strafzug nach Peking unwirksam bleiben würde, falls der Kaiserpalast von den Mächten nicht besetzt wird. Wie „Reuter" aus Hongkong berichtet, werden im ganzen Süden Chinas Lügenberichte verbreitet, die behaupten, die Erzählung der „fremden Teufel" von der Einnahme Pekings sei baarer Unsinn, eS habe im Gegentheil in der Nähe der Hauptstadt eine große Schlacht stattgefunden, in der die chinesische Armee 60 000 ausländische Barbaren erschlagen habe. Wer, so schreibt die „Köln. Ztg.", Gelegenheit hatte, während des Krieges mit Japan chinesische Landestheile zu bereisen, in die die Japaner noch nicht vor gedrungen waren, wird über die Leichtgläubigkeit gestaunt haben, mit der in China derartig erlogene Kriegsberichte, die der für den Volkscharakter so bezeichnenden Ueberhebung schmeicheln, als etwas ganz Selbstverständliches ausgenommen wurden, und als beim Friedensschluß die Negierung in der amtlichen Pekinger Zeitung erklären ließ, der Kaiser habe die Japaner durch seine Vasallen Rußland und Frankreich aus dem Lande jagen lassen, gab es nur wenige Chinesen, die erkannten, wie frech und lächerlich diese Lüge war. Auch im Jahre 1860, als die Engländer und Russen auf den Mauern Pekings Halt machten und davon abstanden, den kaiserlichen Palast zu besetzen und zu zer stören, wurde ihnen das allgemein als Angst und Feigheit ausgelegt. Denn daß der Sieger Großmulh und Gnade übt, ist dem Chinesen, weil er selbst in solchem Falle nicht im Entferntesten daran denken würde, gänzlich unverständlich; wie er seinen Sieg bis zum grausamsten Ende anönutzen würde, so erkennt er nur den als Sieger an, dessen schwere Hand sichtbare Zeichen seiner Ueberlcgenheit zurückläßt. Neuerdings schienen auch die Generäle in Peking zu der Erkenutniß gekommen zu sein, daß es eine verfehlte Politik sein werde, den Palast zu schonen, denn der französische General Frey berichtet vom 20. dS., sie seien jetzt übereingekommen, daß die fremden Truppen — wohl zum Zeichen der Besitzergreifung — durch den Kaiser-Palast durchmarschieren und daß dann dessen Thore geschlossen werden sollten. Eine solche Maßregel wäre zweifellos besser als die zartfüblige Scheu, das HauS des „Sohnes des Himmels" überhaupt zu betreten; aber auch sie würde kaum dem Schicksal entgehen, von der bis zur Höhe einer Kunst ausgebildeten Lügenhaftigkeit der Chinesen verdreht und ver- deutet zu werden. Und nun sind die Generäle dock auf den verfehlten Beschluß znrückgekommen, den Kaiscrpalast als — „Tabu" zu betrachten! Nach englischen und anderen Berichten ist die kaiserliche Familie mit dem Hofstaat und der Regierung geflohen. Dadurch wird den verbündeten Mächten die Einleitung von Friedens verhandlungen mit dieser Negierung allerdings sehr erschwert. Insofern ist das Entwischen des ganzen bisherigen Re- gierungSapparateS ein unerfreuliches Ereigniß; daß überdies- Negierung etwa im Innern Chinas große Truppenmassen auf bieten und den Mächten einen nackdruckSvollen militärischen Widerstand entgegensetzen könnte, ist sehr unwahrscheinlich. Wenn schon die verhältnißmäßig leichte Einnahme Pekings bewies, daß es mit der militärischenWiderstandsfähigkeit der Chinesen vorbei ist, so zeigt sich das auch wieder in den neuesten Gefechten bei Tientsin. Nicht daß eine kleine zusammengewürfelte europäische Truppe eine weit überlegene chinesische Masse geschlagen hat, ist hierbei das Kennzeichnende, sondern daß gegenüber einer chinesischen Verlustliste von 360 Mann die Verbündeten nur 11 Verwundete aufzuweisen haben. AuS solchen Verhältnißzahlen geht hervor, daß der chinesische Widerstand nur ganz schwach gewesen sein muß. Ein ähn liches Verbältniß der Verlustziffcrn finden wir auch in den letzten russischen Berichten aus der Mandschurei, und zwar kann man dort auS Vergleichen mit früheren Gefechten die Beobachtung machen, daß die chinesischen Verluste immer stärker werden, die der Russen aber abnehmcn. Thanghat. „Neuter's Bureau" meldet: Die fremden Consuln sprechen ihre Mißbilligung zu der angeregten Illumination der Stadt anläßlich der Feier der Befreiung Pekings aus. Sie haben der Stadtverwaltung mitgctheilt, daß sie sich an der Illu mination nicht beiheiligen. — Es sind Gerüchte im Umlauf, die von einem wichtigen Schritt der Engländer im Dang tse-Thale wissen wollen. Politische Tagesschau. * Leipzig, 28. August. Von wem die „Nordd. Allg. Ztg." weiß, daß eine baldige Berufung des Reichstags nicht erfolgen wird, ist ihr Geheimniß. Vom Kaiser gewiß nicht, vom Reichskanzler oder vom Grafen Bülow, die erst im September in Berlin zurück erwartet werden, wohl auch nicht, und wer außer diesen beiden Würdenträgern, sollte wohl Kenntniß davon haben, wann der Kaiser von seinem Rechte der Berufung des Reichstages Ge brauch zu machen gedenkt? War aber auch die „Nordd. Allg. Ztg." zu ihrer Behauptung autorisirt haben mag, jedenfalls hat das officiöse Organ alle Ursache, sich dieser Autorisatidn zu freuen, denn wenn der Reichstag bald zusammenträte, so würde er un barmherzig mit den „Regierungsfcdern" ins Gericht gehen, die seit dem Beginn der chinesischen Wirren die öffentliche Meinung hl Deutschland mehr und mehr verwirrt als aufgMirt und erst soeben wieder diese Virtuosität durch ihre Auslassungen über die Person und die Expedition des Grafen Waldersee be wiesen haben. Schon damit unsere auswärtigen „Freunde" keine Gelegenheit erhalten, über ein solches Gericht im deutschen Reichs tage sich zu erlustigen, ist es gut, wenn seine Berufung noch eine Weile verzögert wird. Inzwischen können Fürst Hohenlohe und Graf Bülow nach ihrer Rückkehr den Versuch unternehmen, den in Unordnung gcrathenen officiöse» Schreibapparat in Ord nung zu bringen und manches Andere zu klären, was noch im Dunkeln liegt und der Aufklärung dringend bedarf, bevor es im Neichstagssaale zur Besprechung gelangt. Heute darf es als er freulich bezeichnet werden, daß das Hauptorgan der Conserva- tiven, die „ Kreuzzt g.", die nach der Ernennung des Grafen Waldersee zum Oberbefehlshaber in Ostasicn von der nüchternen Bcurthcilung des ostasiatischcn Problems, die sie bis dahin an den Tag gelegt und die von anderen conservativen Blättern mehr oder weniger nachdrücklich festgehalten worden war, abgewichen war, nunmehr auf den alten Standpunct zurllckgekehrt ist. Die Art, wie sie in ihrer letzten Wochenschau über das chinesische Problem sich äußert, ist so beschaffen, daß alle nationalen Par teien ihr beipflichten können. Zweifellos ist es richtig (was wir beim Beginn der chinesischen Wirren nachdrücklich betont haben), daß Deutschland unter Umständen auch fern von der Hcimath das Leben seiner Söhne einsetzen muß; ebenso richtig ist es, daß Deutschland durch die Ucbertragung des Oberbefehls an einen deutschen General eine schwere Verantworck-.chkeit auferlegt wor den ist; will die „Kreuzztg." die Uebernahme dieser Verantwort lichkeit nicht mit Bcsorgniß, sondern mit frohen Hoffnungen be gleitet wissen, so ist sie doch weit entfernt davon, sie mit der Ekstase des „Kl. Journ." zu begrüßen. Die Vorgänge, die mit der Ent sendung des Grafen Waldersee leider verknüpft waren, versieht die „Kreuzztg." mit derselben rückhaltlosen Kritik, die nationale Blätter anderer Parteirichtung geübt haben. Diese Kritik fällt um so mehr ins Gewicht, als die „Kreuzzeitung" mit der preußischen Armee nicht nur Fühlung hat, sondern auch erheblichen Einfluß auf die Denkweise des Officiercorps ausübt. Gerade deshalb ist es erfreulich, daß auch die „Kreuzztg." die Qualität und die Quantität der dem Grafen Waldersee zu theit gewordenen Kundgebungen als „mehrfach nicht das gehörige Maß" innehaltcnd beklagt, indem sie dabei geltend macht, daß die zu häufigen Reden des Grafen selbst aus Rücksichten der Höflich keit gehalten worden seien. Die letztere Erscheinung habe nach zwei Richtungen etwas Bedenkliches: einmal müsse sich der Ein druck der Reden eben wegen ihrer Häufigkeit allmählich ab schwächen, sodann „konnte nach außen hin leicht die Meinung erweckt werden, daß auch in unseren militärischen Kreisen die für die Oeffentlichkeit bestimmte Rede eine her vorragende Rolle spielen und damit unserer militärischen Action im Voraus eine gewisse Dramatik gegeben werden solle". Darum hält es die „Kreuzztg." für besser, „wenn der verehrte Feld marschall minder häufig zu Kundgebungen herausgefordert worden wäre". Auch die Rolle, die der officiöse Telegraph in Bezug auf die Reise des Grafen Waldersee gespielt hat, wird von der „Kreuzzeitung" getadelt und als „Trost" hervorgehoben, daß die eigentlich amtlichen Kreise den gerügten Erscheinungen fernstehen. Die „Kreuzztg." schließt Letzteres aus dem (von uns in der Presse zuerst betonten) Umstande, daß der „ R e i ch s a n z e i g e r " über die Abreise des Grafen Waldersee rein sachlich berichtet hat. Wenn die „Kreuzztg." hieran den Ausdruck der Hoffnung knüpft, „daß unsere militärischen, wie unsere politischen Kreise ihre Leistungsfähigkeit nach wie vor weniger durch Reden, als durch Thaten bekunden werden", so haben wir die gleichen Gedanken in der Form des Wunsches in zahlreichen nationalen Blättern verschiedener Parteirichtung ausgedrückt gefunden. Bezeichnend für die nüchterne Auffassung der chine sischen Frage durch die „Kreuzztg." ist auch ihr letzter wirth- schaftlicher Wochenbericht. Abgesehen davon, daß in ihm bemerkt wird, Graf Waldersee sei nicht der diplomatische Bevollmächtigte der Verbündeten, betont er, wie wenig bei dem Kriege gegen China auf einen finanziellen Erfolg gerechnet werden kann. Ob die Zustimmung der „Kreuzztg." zu der Ansicht des russischen Staatsrathes von Bloch, daß die Grundnatur der chinesischen Gesellschaft keine Aussicht auf eine bedeutende Ausdehnung des Handels biete, richtig ist, bleibe dahingestellt, aber als ein Merkmal der nüchternen Beurtheilung der chine sischen Frage durch das conservative Hauptorgan verdient sie Beachtung. Aus mehreren europäischen Hauptstädten ist kürzlich gemeldet worden, der Gedanke, gemeinsame Massregeln gegen de» Anarchismus zu ergreifen, sei nicht aufgegeben. Heute liegt in der „Nat.-Ztg." ein Bericht aus der Schweiz vor, in dem die erfreuliche Mittbeilung gemacht wird, daß man dort keineswegs gemeinsamen Vorkehrungen gegen den Anar chismus und die Propaganda der That widerstrebe. Es heißt in dem Berichte: „Ausübender Anarchist wird Keiner von einem Tag zum andern, er muß erst ausgebildet werden und durch die bezügliche Akademie hindurchgehen, wofür man eben für Tauiende die Gelegen heit schafft, indem man die Akademiker der Secte Schule machen läßt. Der selbstständig urtheilende Bürger versteht es auch bei unS nicht, daß man die anarchistische Propaganda in Wort und Schrift gestattet, und er hat Recht. Wenn eine neuere kriminalistische Schule sogar dem Staate erlauben will, gegen minder gefährliche Subjecte die Gesellschaft durch dauernde Unschädlichmachung zu sichern, so fragt man sich, ob Las alte Dogma, daß Keiner gepackt werden darf, ehe er etwas verbrochen hat, nicht gegenüber dem Anarchismus einer Durch- brechung bedürftig sei. Nein sagen bei uns nur Theoretiker und Feuilleton. Ilonka. bl Roman von C. Deutsch. Nachdruck verboten. „Heul' nit, sondern red'!" rief Juran außer sich und riß ihr mit einer wilden Geberde die Hände vom Gesicht. „Deine Thränen machen mich jetzt nicht weich, sie versteinern mein Herz. Red' im Namen Gottes, im Namen Deines Vaters, im Namen Deiner todten Mutter: hast Du das zu Marien gesagt und denkst Du so?" Bei diesen furchtbaren Worten änderte sich plötzlich das kindische Benehmen des Mädchens. Das Bewußtsein überkam sie, daß sie am Wendepunct ihres Lebens stehe, daß dieser Augen blick nie mehr in ihrem Leben wiederkehren werde. Sie stand auf, wischte sich die Thränen vom Gesichte und sagte mit kurzem Entschlüsse: „Da es Dir Marie gesagt hat, so soll es auch dabei bleiben. Wissen mußt Du es doch einmal, die Marie hat Dich mit keinem Wort« belogen, es ist Alles, Alles wahr!" Obwohl Juran's Seele eine Art dumpfer Ahnung um fangen hielt, daß es so kommen würde, und er es nur mit ver zweifelter Gewalt unterdrückt hatte, so gingen ihm doch diese Worte wie ein Dolch mitten durch's Herz, daß er einige Augen blicke ganz erstarrt und betäubt dastand, jeder Lebensfähigkeit beraubt. Ilonka hatte ihn nicht angesehen, während sie die Worte gesprochen, so hatte sie auch die furchtbare Wirkung derselben nicht bemerkt; sie fuhr hastig und in abgebrochenen Sätzen fort: „Es kann nit mehr sein, wie s früher war. . . verzeih' . . . aber es kann nit! Und da hast' Deinen Ring wieder, ich hab' ihn schon viele Tage nit auf dem Finger gehabt ... ich kann nit . . . er brennt mich wie Feuer!" „Er brennt Dich wie Feuer, mein Ring?!" wiederholte Ju ran, wie Einer, der noch nicht völlig zu sich gekommen ist. „Wie glühendes Feuer, drum nimm ihn, nimm ihn!" Sie zog ihn aus der Tasche und legte ihn auf das Fenster. „Es würd' uni ja nur ohnehin Unglück gebracht haben", fuhr sie fort, „Dein Vater würd' es nie zugegeben haben, und —" „Misch nit meinen Vater ein", fuhr er jetzt plötzlich wie von einer Schlange gestochen auf. Jede Muskel seines Gesichts b«§k jetzt vor Zorn und Entrüstung. „Misch' nit meinen Vater ein und steck' nit Deine bösen Gedanken dahinter, hast bis jetzt nit gewußt daß es so ist, hast es vor sechs Wochen nit gewußt, als Du den Ring nahmst? Hast' Dich nit darüber gefreut, daß es grad' so ist? Seit wann lügst' denn, und steckst die schwarze Sünd' hinter das weiße Tuch, damit sie Niemand erkennt? Du meinst Wohl, ich weiß nit, woher auf einmal dieser Wind weht? Der schöne Herr hat Dir dies Gift eingegeben, der glatte, ver- rätherische Schurke mit dem feinen Gesicht und lügnerischen Herzen. Ich tödt' ihn aber, er soll den kommenden Tag nit er leben!" schrie Juran außer sich und mit einem Gesicht, das furcht bar anzusehen war. Er stürzte zur Thür. Das Mädchen eilte ihm nach und klammerte sich an seinen Arm. Er schleuderte sie aber von sich und so heftig, daß sie mit der Stirn gegen die Thüreinrahmung flog und dann blutend zur Erde fiel. Juran war schon im Vorhaus draußen; diese That brachte ihn zu sich, in die Grenzen seiner ursprünglichen Natur zurück. Er, der sich stets an die Seite des Schwächeren gestellt, unwillkürlich, von einem inneren Drange getrieben, als wollte er unbewußt die Ucberfülle der Kraft, die ihm geworden, auf die Bedürftigen übertragen, er hatte die Hand auf eine solche Weise und gegen sein Mädchen erhoben. Tiefe Reue überkam ihn, ein unend licher Schmerz; die Augen des starken Burschen wurden feucht, er ging zu ihr hin, hob sie auf, und wischte ihr mit dem Taschen tuche das Blut vom Gesicht. In diesem Augenblicke kam Martha herein. Sie hatte end lich den Sack mit Getreide bis zur Buschmühle getragen und ihn dort niedergeworfen. Jetzt trat sie herein- „WaS giebt's denn, was geht unter Euch vor?" fragte sie, mit Erstaunen die Beiden betrachtend. Juran riß daS Halstuch ab und bedeutete ihr, eS draußen anzufeuchten, denn daS Blut rieselte noch immer und wollte sich gar nicht stillen lassen. „Siehst', Mädel, wie weit es zwischen uns gekommen ist?" sagte Juran. Seine Stimme klang so tief traurig, daß es mehr als Alles ergriff. Sie schwieg. „Du hast mich verrückt gemacht", fuhr er fort, „mir so etwas zu sagen, mir . . . Weißt Du denn nit, was Du mir bist? Wie lieb ich Dich habe? Mehr als mein eigenes Leben?" Scheu und geängstigt wich sie vor ihm zurück, seine Leiden schaftlichkeit erschreckte sie, so hatte sie ihn noch nie gesehen. So hatte es aber auch noch nie in ihm gefluthet. Seine Neigung hatte bis jetzt tief, aber still und friedlich in ihm gelebt. Vor einigen Tagen zuerst aufgeschreckt, sprengte sie jetzt bei dem zweiten Sturme die Fesseln und ergoß sich in vollen heißen Strömen, sein ganzes Sein erschütternd. Juran hatte nie viel Worte und Reden gemacht, sei*« Nei gung zeigte sich mehr in einer stillen, tiefen Innerlichkeit. Das Mädchen war zu seinem Dasein so nothwendig, wie die Luft, die er athmete, wie die Sonne, die er schaute. Was war da viel zu sprechen? Und ein Bauer spricht nicht von seinen Empfindungen, wenn sie ruhig ihrem Ziele zustreben. Anders ist es, zumal bei einer Natur, wie die Juran's war, wenn die Gefühle durch ein Ereigniß aufgewühlt, durch ein Hemmniß versperrt, keinen Aus gang finden, in die eigene Tiefe zurllckschlagen und sich dann doch gewaltsam Bahn brechen . . . Ilonka fühlte Mitleid mit ihm, aber auch mit sich, und letzteres entschied; und was sie vor eini gen Wochen noch mit Freuden begrüßt hätte, erregte jetzt Angst, Mißbehagen, Schrecken in ihr. Wie anders klang ihr Name von den Lippen des Fremden! Wie senkte sich seine Stimme in ihr Herz, ihr ganzes Sein erschütternd. Konnte sie dafür, daß es so gekommen, daß alle ihre Gedanken dem schönen Manne gehörten? Daß selbst jetzt, während Juran sprach, die volle me lodische Stimme des fremden Mannes in jedes Wort hinein tönte, sein schönes, feines Antlitz sich zu ihr drängte, mit dem unaussprechlichen Blicke der Augen, daß sie ihn nur sah und hörte und jeder andere Gedanke sie unglücklich machte? Martha kam mit dem nassen Tuche und band es dem Mäd chen um die Stirn. „Aber sagt mir, was hat's denn unter Euch gegeben?" fragte die Bäuerin. „Etwas, das sie und ich nit hätt' erleben müssen", sprach Juran; dann setzte er hinzu: „Als Lohn, weil ich mich nie um ein ander Mädel gekümmert hab', weil es außer ihr für mich nichts auf der Welt gegeben hat, seit ich nur denken kann, hat sie mir aufgesagt, den Ring zurückgegeben, warum? . . . weil sie sich an den Fremden gehängt hat." „Gott im Himmel!" schrie Martha auf. „Warum entsetzt Ihr Euch so!" fragte Juran mit tiefer Bitterkeit. Es ist ja nur eine Kleinigkeit, nit Werth, davon zu reden. Sie ist nit die Erste, die die Treue gebrochen hat,» und hier lohnt sich's ja auch! Ein feiner, glatter Herr, mit Zucker auf den Lippen und Gift im Herzen. DaS aber weiß sie nit, daß Schmeichelworte auS einem Herrenmunde schon manches Mädel um Glück und Frieden gebracht haben, daß, nachdem er sie elend gemacht, hat sitzen lassen." „Was willst Du mit Deinen bösen Worten?" unterbrach ihn Ilonka in höchster Aufregung. Die Scene wurde ihr uner träglich, und sie wollte sie um jeden Preis enden. „Der Fremde fiebt mich und wird mich heirathen." „Er wird Dich heirathen?" „Das wird er; er hat es mir schon tausend Mal zuge- schworen." ' » „So weit bist schon? So tief hast' mich hintergangen, mir die Augen fest verbunden mit Deinen Worten, daß ich nit sehen und merken sollte, damit Du den bösen und sündhaften Weg un beirrt gehen kannst? Und Dein Vater! . , . Glaubst', der wird das so ruhig mit ansehen?" „Er wird", unterbrach sie ihn leidenschaftlich, „er wird, wenn ich ihm sagen werde: Vater, ich kann ohne den Fremden nit mehr leben, er ist mir mehr als Alles, Juran's Liebe drückt mich wie das schwerste Unglück, und ehe ich sein Weib werde, will ich lieber in dem tiefsten Grundb des Sees begraben liegen." Mehr sprach sie nicht. Juran ging langsam zum Fenster, auf dem der Ring lag; es war zwar, als ob seine starke Ge stalt wankte, aber das war nur anfangs, bald befestigte sich sein Schritt. Er nahm den Ring vom Fensterbrett, legte ihn in der Mitte der Stube auf den Boden und zertrat ihn mit dem schweren, eisernen Absatz seines Stiefels, daß er wie Glas zer splitterte. „Wie ich hier den Ring zertreten habe", sagte er und stieß mit dem Fuße die Stücke von sich, „so zertret' ich mein Wort, das ich Dir gegeben hab', und meine Lieb' zu Dir im Herzen. Kannst geh'n, bist auf immer frei von mir. Wenn Du aber glaubst, daß ich nichts mehr thun werd', so irrst", fuhr er dann fort, und die Stimme, die anfangs leise und von innerem Beben fast unverständlich war, wurde immer fester und kräftiger. „Mit Dir bin ich fertig, aber der Sohn Deines Vaters bin ich noch und werd' eS immer in meinem Herzen sein, und dem werd' ich sagen, daß er sein graues Haupt vor Schande wahren soll." XII. De§ anderen Tages verbreitet« sich ein seltsames Gerücht im Dorfe. Der fremde Mann, der von Bator gerettet worden war, und so lange in seiner Hütte krank gelegen, hatte zum Danke die Tochter entführen wollen; Bator, der gewarnt worden war, hatte ihnen nachzesetzt und sie auf dem Weg nach Füred einge holt; bei Vi«len hieß eS, es sei auf dem See gewesen, doch ob der Verführer seine Strafe erhalten, ob er frei davongekommen war, wußte Niemand.... Die Wahrheit war folgende: Juran hatte noch am selben Abend ein« Unterredung mit Bator gehabt, die zur Folge hatte, daß Lion «ine Stunde später daS Gebirg« verließ. Der alt« Bator war anfangs ganz entrüstet und wollte eS gar nicht glauben, bis er es aus dem Munde der Tochter wiederholen hörte, die cs ihm weinend «inzestand. Der alt« Mann hatte nie etwas gesehen, was sein Mißtrauen, ja, nur seine Aufmerksamkeit erregt hätte. Er wußte, daß Ilonka Juran gut war seit den Kinderjahren her, und dem Fremden hatte er ja gleich anfangs gesagt, daß sein Kind der-
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