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10180 vvrsenLIatt f. b. DIschn. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. 208, 3. September 1912. deutsche Gartenstadt liegt. Der Riesenleib wächst und wird noch mehr wachsen, wenn erst der »Riga-Cherson-Kanal» vollendet sein wird, der sich durch das ganze europäische Rußland ziehen und das Schwarze Meer mit der Ostsee ver binden soll. Alles wächst, Magazine aller Art haben sich vergrößert und mächtige Schaufenster in ihre alten Läden eingebaut, nur unsere guten deutschen Buchhandlungen sind die alten geblieben, sie zeigen noch immer das alte Gesicht, wenn sich auch wohl bei allen der Umsatz ver größert hat. Man schasst fleißig und streckt seine Fühl hörner bis weit nach Sibirien hinein, um seine Absatzgebiete zu erweitern. Es find alles tüchtige Handlungen, aus die der deutsche Buchhandel stolz sein kann; es wird im Auslande nicht allzuviel Sortimente geben, die, wie die « größten in Riga, eine Viertelmillion Mark und mehr Um setzen. Wenn ich oben sagte, daß wir Deutschen den Letten und Esten mehr entgegenkommen sollten, so gilt das nicht nur im politischen Leben, sondern ganz besonders im geschäft lichen, und gerade die deutschen Sortimenter würden gut daran tun, den Eingeborenen nicht fremd gegenüberzustehen, sondern sie sich als Büchcrkäufer zu erziehen. Jeder auch nur wenig gebildete Lette oder Este versteht und lieft deutsch. Ich selbst habe in lettischen Häusern Privatbibliotheken mit deutscher Literatur gesunden, die so manches deutsche Haus mit seinem Schiller und Goethe beschämen könnten. Meine Meise führte mich dann nach Reval, einer ge mütlichen »altdeutschen» Stadt mit teilweise noch erhaltener Stadtmauer, prächtigen alten Türmen und Kirchen. Die Straßen gehen kreuz und quer, bergauf und bergab, und aus den Häusern strecken sich noch lange Arme, die Firmenschilder und Handwerkszeichen halten, ganz wie anno dazumal. In der Altstadt hat sich hier wohl seit vielen Jahren nichts verändert. Das schöne, im nordischen Stil gebaute deutsche Stadttheater liegt schon in der Neustadt und ebenso das im Bau begriffene, das deutsche Theater in seiner Größe weit überragende est nische Stadttheater. Doch wie lange wird Reval noch der schöne idyllische Winkel sür den Altertumsfreund sein? An den Tagen meines Dortseins legte Zar Nikolaus II. den Grundstein zu dem neuen Reoaler Kricgshafen, neue Schiffs werften werden gebaut, und bald wird auch hier das Leben stärker pulsieren, so daß die besorgten alten Reoalenser recht haben mögen, wenn sie meinen, daß nun viel von dem alten gemütlichen Leben der Vergangenheit angehören und die Lebenshaltung noch teurer werde als bisher. Mit dem neuen Kriegshafen und den neuen Kriegsschiffen kommt russische Marine in die Stadt, wo die Russen, wie in den Ostsee provinzen überhaupt, als Preisverderbcr gelten. Sie kommen aus den beiden Hauptstädten, sind an Refidenzpreise gewöhnt und geben ganz unverhohlen ihrer Verwunderung Ausdruck, wenn sie etwas billiger finden als in Petersburg oder Moskau. Hier in Reval fiel mir ein interessanter Antiquariatskatalog der Firma N. Feitelberg in die Hände, ein Katalog von ca. 1000 Nummern über Werke zur baltischen Geschichte und Landeskunde. Es ist eine tüchtige Leistung, wenn man in Betracht zieht, daß gerade die älteren Baltica immer mehr in die Bibliotheken übergehen und so fast gänzlich aus dem Handel verschwinden. An Seltenheiten ist zweifellos der 1810 erschienene Katalog Baltica von N. Kymmel, Riga, reicher, doch finden sich auch bei Feitel berg einige recht gesuchte Werke, u. a. »Russow, Chronika der Provintz Lyfflandt. . . .«, Ibo Larä 1584, »Gruber, Orixinos Invoniso . . .» Francofurti 1740, die erste estnische Ausgabe des Neuen Testaments von 1715 u. a. m. In dem sonst recht hübsch zusammengestellten Katalog würde man die Bezeichnung »Selten« oft gern missen, da es bei kleinen, unbedeutenden Drucken keinen guten Eindruck macht, immer diesem Worte zu begegnen. Ich berührte dann noch die Insel Oesel mit ihren be rühmten Schlammbädern in Arensburg und ging dann nach Hapsal, um meine arg mitgenommenen Buchhändlernerven sür die Wintermonate zu stärken. Hier am Strande der Ostsee kam mir ost der Gedanke an alle die Schönheiten, die das glückliche Rußland in sich birgt- die herrliche Krim, die an landschaftlichen Reizen, leider aber auch an Preisen mit der italienischen Riviera wetteifern kann, den gewaltigen Kaukasus, der so viel mächtiger, natürlicher und schöner ist als die Alpen, den Strand der Ostsee mit all seinen Heil- und Vergnügungsbädern und noch vieles andere. Der Russe hat wohl alles, was ec an landschaftlichen Schönheiten braucht, viel besser im eigenen Lande als er es im Auslande finden kann. Die Sommermonate find sür uns Geistesarbeiter Monate der Ruhe, und alles fließt langsamer. Die Post, die sonst alltäglich Mengen von Briefen und Drucksachen bringt, hatte während meiner Abwesenheit nur wenige An zeigen und schmächtige Börsenblätter gebracht. — Zu unterst aus meinem Schreibtisch lag ein Werk in Folio, betitelt »Oollsotion bl. ?. Rotlrino» (Verlag für das Ausland Karl W. Hiersemann, Leipzig, Preis ^ 260.— no. no.). Botkine ist einer der bekanntesten russischen Sammler von Kunftgegenständen und hat während seiner 50 jährigen Sammlertätigkeit eine einzig dastehende Privatkollektion zu sammengebracht. Grablampen, gemalte Vasen, Terrakotten, Statuetten, Masken, farbiges Glas, goldener Schmuck usw. usw. repräsentieren das klassische Altertum, während die italienische Renaissance mit Majoliken aller Art, Holzschnitzereien, Tischen, Stühlen, Leuchtern, Elfenbeinschnitzereien, Türklopsern u. a. vertreten ist. Die Krone der Sammlung aber find die byzantinischen Emaillen, die, was Reichhaltigkeit und Schönheit anbetrifft, die einzigen in einer Privatsammlung sind, die sich mit der berühmten Pala d'oro im Domschatz zu Venedig vergleichen können. Alle diese, zum größten Teile aus Georgien und vom Berge Arhos stammenden Arbeiten gehören in das 9.—12. Jahrhundert, die Blütezeit dieser Kunst. Das in einen hübschen Halbmaroquinband gebundene Werk enthält 103 Tafeln, davon 54 in Farben und Gold und 41 Seiten Text in französischer Sprache mit 73 Abbildungen. In der »Petersburger Zeitung» wurde neulich das Resultat einer interessanten Rundfrage veröffentlicht: »Was liest Petersburg von den zeitgenössischen Autoren in den Lesehallen?» Das statistische Material lieferten 16 Lesehallen, die jährlich von ca. 200 000 Personen besucht werden, so daß man ein ziemlich richtiges Bild erhalten dürfte. Am höchsten in der Gunst des Publikums steht der alte Belletrist W. Nemirowitsch-Datschenko, dessen Werke 4280 mal verlangt wurden. Es folgt dann an zweiter Stelle die Schriftstellerin Werbizkaja, die in Deutschland durch die Übersetzungen ihrer Werke im Verlage der Literarischen Anstalt Riitten L Loening, Frankfurt a. M., bekannt geworden ist, mit 3846 Nachfragen, dann weiter Mamin Ssibirijak mit 1977, Amfiteatrov mit 1937 und Kuprin mit 1799 Nachfragen. Dann erst, an sechster Stelle, früher immer unter den ersten, folgt Maxim Gorki, dessen Werke 1579 mal verlangt wurden. Auch Leonid Andrejew, früher ein Liebling des Publikums, folgt diesmal erst an siebenter Stelle mit 1548 Nachfragen. An achter Stelle steht der einst so beliebte Kowalenko, für den nur 1002 Leser Interesse zeigten. Die Werke Mereshkowskis, WeressajewS und Baranzewitschs sind 800—900 mal verlangt worden. Von den toten Schriftstellern steht Tolstoi mit 10353 Nach fragen weit über den anderen. Er kann wohl als der gelesenste russische Schriftsteller überhaupt angesehen werden. Aus dem ehemaligen Gute Turgenjews wird jetzt ein Turgenjew-Museum errichtet, das alles von dem Dichter