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Nichtamtlicher Teil. 272, 24. November 1S1V. Nichtamtlicher Teil. Pariser Brief. ix. (VIII. vgl. Börsenblatt 1910 Nr. I I.) Wenn wir die Literatur, die wir über Frankreich und fran zösische Verhältnisse besitzen, mit derjenigen der Franzosen über uns vergleichen, so stellt sich heraus, daß wir über Frank reich und seine Einwohner ganz bedeutend besser orientiert sind als unsere Nachbarn jenseits der Vogesen über uns. Selbst der alte Baedeker wird heute noch von allen Franzosen rückhaltlos als bestes und zuverlässigstes Reisehandbuch über Frankreich anerkannt. Und doch fehlte es uns bis heute an einem Buch das nicht nur, wie der Baedeker, dem Reisenden alle Sehenswürdigkeiten nennt, sondern demjenigen der fremd ins Land kommt, in knapper, klarer Form Aufschluß gibt über Sitten und Gebräuche, über Staatsverfassung und Familienleben, über den Charakter der Franzosen und über Pariser Eigentümlichkeiten, kurz über alle solche Punkte die man in Reisehandbüchern nicht findet und die man sich aus um fangreichen wissenschaftlichen Werken erst mühsam zusammen suchen muß. Diese wirkliche Lücke in der Literatur wird ausgefüllt durch ein kürzlich bei G. Freytag in Leipzig erschienenes Buch: Röttgsrs. Das kleine Werk ist offenbar als Schulbuch für die oberen Klassen höherer Lehranstalten gedacht, und dafür er scheint der Preis von 4 vielleicht etwas hoch. Auch läge, wenn es sich bloß um ein Schulbuch handeln würde, kein Grund für eine Besprechung im Börsenblatt vor. Wenn ich dies dennoch tue, so geschieht es um all den zahlreichen Gehilfen die nach Paris gehen wollen und die nur zu häufig mit wenig oder auch gar keinen Vorkenntnissen über das Pariser Leben Herkommen, zu sagen, daß sie keinen zuverlässigeren Ratgeber für die Eigen heiten und Alltäglichkeiten des französischen Lebens finden können, als das eben genannte Buch. Es ist erstaunlich, welch eine Fülle von wichtigstem Material die beiden Verfasser, die sich durch ihre verschiedene Nationalität vorzüglich ergänzen, auf den 2S8 Seiten ihres kleinen Werkes zusammengetragen haben. Derjenige Ausländer der einen französischen Roman, eine französische Zeitung liest, wird, wie die Verfasser in ihrer kurzen Vorrede sehr richtig bemerken, mit Hilfe dieses Buches ein ganz anderes Verständnis für feine Lektüre haben, er wird Paris und Frankreich mit ganz anderen Augen ansehen, anders verstehen und anders genießen können. Ein kurzer Abriß der französischen Geschichte von Louis XIV. bis auf unsere Tage eröffnet das Buch; nach verschiedenen geographischen und sozialpolitischen Notizen über Frankreich, auf die wir nicht näher einzugehen brauchen, folgt ein längeres und sehr interessantes Kapitel über Paris in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, die Stadt des Luxus, des Vergnügens, der Kunst, der Wissenschaft, des Handels und der Industrie, über Eigenheiten des Pariser Lebens, den Charakter des Parisers usw. Angenehm berührt, daß die Verfasser sich in keinen Lobhudeleien ergehen, sondern wirklich vorhandene Nachteile in keiner Weise zu beschönigen suchen. Im dritten Abschnitt, I»a l?ranee litterairs et artistigue, finden wir das Kapitel, das uns Buchhändler am meisten interessiert: einen kurzen Abriß der heutigen französischen Literatur in Drama, Vers und Prosa, mit knapper Schilderung der bedeutendsten Autoren und ihrer Werke. Wenn diejenigen unserer Gehilfen, die sich in den Stellengesuchen des Börsenblatts als mit französi schen Literatur- und Sprachkenntnissen bespornt ausgeben, nur so viel wüßten, wie hier auf 2S Seiten zusammengedrängt steht, so könnten sie damit auch weitgehenden Ansprüchen vollauf genügen. In einem weiteren Abschnitt »La vie in- teUsotuelle« werden kurz, aber gründlich die großen Pariser Tageszeitungen, ferner die besten Wochen- und Monats schriften genannt, und endlich auch die großen Pariser Verlags häuser angeführt, wie Hachette, Larousse, Armand Colin, Lemerre, Plon-Nourrit L Cie., Calmann-Levy, Fasquelle, Ollendorfs u. a. Alle sogar noch mit kurzer Angabe ihrer Richtung. Das, was das Buch für den Deutschen besonders wertvoll macht, ist, daß es in der Hauptsache von einem Fran zosen, der Deutschland gut kennt, für Deutsche und deutsche Verhältnisse geschrieben ist. Überall wo französische Gewohn heiten in Privat-, Geschäfts- oder Familienleben von deutschen abweichen, heißt es: im Gegensatz zu deutschen Verhältnissen. Mancher kaux xas, mancher Arger und manche Enttäuschung werden demjenigen, der das Buch kennt, erspart bleiben. Die Sprache ist leicht und fließend und für den Ausländer gut verständlich, die Ausstattung gediegen und hübsch; über 100 recht gute Illustrationen, sowie drei Karten und eine Münztabelle helfen dem Verständnis des Lesers nach, und wenn der Preis von 4 auch etwas hoch erscheint, so kann ich doch jedem Jünger des Buchhandels, der nicht zu seinem Ver gnügen, sondern zu seiner Fortbildung nach Paris kommt, versichern, daß der Betrag dafür gut angelegt ist. Es ist doch nicht alles trist und traurig im alten Buchhandel, es gibt auch Sachen über die man herzhaft lachen kann und die um so komischer wirken, wenn sie von einer Seite ausgehen, die sich sonst keine Gelegenheit entgehen läßt, uns etwas am Zeuge zu flicken. Eine solche Geschichte möchte ich hier kurz erzählen: Vor einiger Zeit, wurde in Frankreich ein sünsfacher Mord begangen, der um jo größeres Aufsehen erregte, als die beiden Mörder noch in sehr jugendlichem Alter standen, etwa 16—17 Jahre. Dieser Umstand veranlaßte den allmächtigen und allwissenden Pariser »Matin« einen seiner Mitarbeiter in die Heimatgemeinde der beiden jugendlichen Verbrecher zu senden, um bei Vettern, Basen und Verwandten eine Enquete über das Vorleben der beiden Jungen zu veranstalten und über die Gründe, die sie zu ihrer Tat bewogen haben mochten. Das Resultat dieser Enquete wurde in einem^elf Spalten langen Artikel mit den entsprechenden schönen Bildern im »Matin« veröffentlicht, und daraus geht klar und deutlich hervor, daß nur die böse Schundliteratur schuld ist an dem schrecklichen Verbrechen. Dagegen ließe sich an und für sich nichts einwenden; es fragt sich nur, was man unter Schund literatur versteht. Außer verschiedenen Publikationen, denen diese Eigenschaft nicht abzusprechen ist und auch nicht abge sprochen werden soll, fand ich in dieser Enquete des »Matin« zu meinem Erstaunen auch die Prospekte des Norddeutschen Lloyd ausgesührt! Es lohnt sich, den betreffenden Passus in wörtlicher Übersetzung wiederzugeben: »Verschiedene Schif-- sahrtsgesellschaften und besonders deutsche, heißt es da, ver breiten in der ganzen Gegend und in großer Zahl Prospekte, die hübsch ausgestattet und illustriert sind. Diese Hefte betiteln sich »Reise um die Welt auf Lloyddampfern« und haben u. a. folgende Kapitelüberschriften: »Vergnügungsreisen zur See«, mit verlockenden Bildern, wie einen Ball oder Spiele an Bord eines Dampfers, tropische Gärten, japanische Häuschen, Kamele unter Palmen, — kurz alles Sachen die Kindern den Kopf verdrehen müssen«. Ist das nicht unglaublich? Dieser Mitarbeiter des »Matin«, Herr Hugues Le Roux, der die harm losen Publikationen des Norddeutschen Lloyd auf die gleiche Stufe mit der Schundliteratur schlimmster Sorte stellt, ist der Redaktion des Börsenblatts kein ganz Unbekannter mehr: er hat schon mehrfach Enqueten über den Absatz französischer