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192, 19. August 1308. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt s. d. Dtschn. Buchhandel. 8777 Die St. Petersburger Buchhandlungen, soweit sie mit dem deutschen Buchhandel in Beziehungen stehen, sind durchweg achtung gebietende Firmen, deren geschäftliche Verbindungen sich über ganz Rußland bis zum entferntesten Osten, nach China, Japan, Turkestan usw. erstrecken. Man kann sagen, daß das inter nationale Sortimentsgcschäft fast ausschließlich von Deutschen, bezw. Deutsch-Russen gepflegt wird, während das Verlagsgeschäft hauptsächlich von Russen betrieben wird. Das national-russische Sortiment ist noch wenig organisiert und kann auf keinen Fall mit unfern deutschen Verhältnissen verglichen werden. Hier im internationalen Sortiment findet man noch den Typ des ideal veranlagten Sortimenters, wie er in Deutschland im Ausstcrben begriffen sein soll (ich selbst glaube nicht daranh Sortimenter, die trotz vieler Fehlschläge und Unannehmlichkeiten aller Art mit aufopferndem Mute und freudiger Hingabe an ihren arbcits- vollen Beruf sich die Ideale unseres Standes bewahrt haben. Freilich, Warenhaus-, Rest-, Reise- und Kolportagebuchhandel, diese Schrecken des deutschen Sortimenters, sind hier noch wenig bekannt, und so mag es denn sein, daß die Prosperität der Ge schäfte sich im allgemeinen günstiger gestaltet als bei uns, wo der erzielte Gewinn selten mit der rastlosen Tätigkeit des Sorti menters im Einklang steht. Es sind noch immer die lieben alten Gesichter fast lückenlos, die ich wieder begrüßen kann. Nun, wie lebt es sich jetzt in Ruß land? Wie haben Sie die schlimmen Zeiten überstanden und wie, denken Sie, wird sich die Zukunft machen? So oder ähnlich mag ich wohl bei allen Kollegen herumgehorcht haben. Im allgemeinen, und das mag auch für die übrigen Plätze gelten, die ich im Anschluß an meinen Petersburger Aufenthalt besuchte, ging cs ja schlimm zu, so schlimm, daß es schlimmer nicht werden konnte. Während der Kriegsjahre gingen, trotz des für Rußland un glücklichen Ausganges, die Geschäfte sehr gut, zum Teil besser als in den vorhergehenden Jahren. Aber die Revolution, die hat alles verdorben, da stockte Handel und Wandel, niemand wußte, was der nächste Tag bringen würde, gefaßt war man auf alles. Jetzt kehrt Sicherheit und Vertrauen langsam zurück, das Geschäft hebt sich, noch freilich hat es seinen normalen Standpunkt nicht erreicht. Jedoch haben wir die Zuversicht, daß keine Rückschläge mehr eintreten und daß es mit der Zeit besser und besser werden wird. Freilich wird es noch einige Zeit dauern; denn mehr als wo anders will in Rußland gut Ding Weile haben. Wenn man die zahlreichen Buchhändlerfirmen auf dem Newsky- Prospekt betrachtet, kommt man zu der Überzeugung, daß der Bedarf an geistiger Nahrung in St. Petersburg und, da ja auch die Provinz einen großen Teil ihres Bedarfs hier deckt, in Ruß land überhaupt ein ganz bedeutender sein muß. Sind doch die Bücherlager, die Firmen wie Ricker, Zinserling, Wolfs, Jsler, Deubner und all die anderen allgemein bekannten Firmen ständig unterhalten, ganz gewaltig. Neben diesen sind die Geschäfte der Nowaja Wremja, die fast nur russisches Sortiment vertreibt, die Lager von Popow, Karabanikoff, sowie die Buchhandlung des russischen Generalstabs u. a. für das russische Büchergeschäft von hoher Bedeutung. Die Bücherlagcr der großen Sortimensfirmen weisen neben russischer und slawischer in der Hauptsache deutsche, französische und englische Literatur auf. Jedenfalls ist der Vertrieb ein voll ständig internationaler. Diese Vielseitigkeit, dieflehr viel Arbeits kraft und ein gut geschultes Personal erfordert, erschwert gewiß einesteils den Geschäftsbetrieb, anderseits ist es doch gerade diese Vielseitigkeit, die den Geist stets wieder erfrischt und durch das viele Interessante, das sie bietet, die vielen mühseligen und mecha nischen, aber doch unbedingt notwendigen Arbeiten vergessen macht. Wie anders wäre es erklärlich, daß unter den St. Peters burger Kollegen, von denen schon viele in ihrem Berufe ergraut sind, sich jugendliche Frische, eminente Arbeitskraft und einen ge sunden Humor so gut bewahrt haben, trotz der schlechten Zeiten, die sie hinter sich haben. Und woher sonst dieses Vertrauen au eine bessere Zukunft? Unseren jungen Gehilfen, die sich in ihren Sprachkenntnissen vervollkommnen und sich eine umfassende Kenntnis inter nationaler Literatur aneignen wollen, kann ich nur empfehlen, einige Zeit in Rußland zu arbeiten. Sie werden hier eine ganze Reihe eigenartiger Eindrücke empfangen und lernen Land und Leute eines Reiches kennen, dessen Handelsverkehr mit Deutsch land noch einer ungeahnten Entwicklung fähig ist. Zudem bieten ich einer tüchtigen, kaufmännisch geschulten Kraft, sobald sie sich in die eigenartigen Verhältnisse des russischen Lebens eingearbeitet hat und die russische Sprache beherrscht, in dem gewaltigen Rutz land gute Chancen für eine weitere Zukunft. Wenn auch gegen wärtig der Geschäftsgang noch schleppend ist, so spricht doch alles dafür, daß sich die Verhältnisse von Jahr zu Jahr ver bessern. Ganz entschieden hat sich infolge des Krieges und der Un ruhen der Straßenverkauf von Zeitschriften und Broschüren be deutend entwickelt, wie denn überhaupt die Nachfrage nach geistiger Nahrung von Tag zu Tag in den breiteren Schichten des Volkes wächst. In der Hauptsache wird dieser Bedarf von den national.russischen Verlegern und Sortimentern befriedigt, und es ist Tatsache, daß die Verleger von einer außerordentlichen Rührigkeit und Geschäftstätigkeit sind, obgleich ihnen die Flügel wieder etwas beschnitten worden sind; von Zensurfreiheit ist längst keine Rede mehr; es ist nur wenig anders als in früheren Jahren. Für die deutschen Verleger und Autoren wird es erfreulich ein zu hören, daß wir vielleicht noch in diesem Jahre den Ab- chluß einer Literarkonvention erwarten können. Jedenfalls haben ich die aus Gelehrten und Buchhändlern zusammengesetzten Sach- verständigen-Kommissionen in der Hauptsache für den Abschluß einer Konvention ausgesprochen. Kommt diese Konvention zu- tande, so werden manche unserer Verleger ihr Interesse dem russischen Markt zuwenden. Ich will deshalb hier nicht unter lassen darauf hinzuweisen, daß die Geschäftsmoral der national- russischen Verleger, die früher schon wenig streng war, infolge der Revolution noch lässiger geworden ist. Es sind daher nur wenige allererste Firmen, mit denen deutsche Verleger — wollen sie unangenehmen Erfahrungen aus dem Wege gehen — in Ver bindung treten können. — So vergehen zwischen geschäftlichen Verhandlungen und Be suchen mehrere Tage. Das Wetter ist andauernd schön; verschie dene der Herren sitzen schon draußen im Walde in ihren Datschen und sind daher nur zu einigen bestimmten Stunden am Tage zu sprechen. Diese Datschen sind auch eine russische Eigenart. Cs ist der Schwarm eines jeden, im Sommer draußen auf der Datsch zu wohnen. Und erlauben es die Mittel nicht, sich auf eigenem Grund und Boden eine wenn auch bescheidene Datsch zu errichten, so wird man sich unter allen Umständen eine solche Holzvilla mieten. Bei Beginn der warmen Jahreszeit dreht sich dann das Gespräch hauptsächlich um die Datschen. Wie gefällt es Ihnen in Ihrer neuen Datsch? Sind Sie zufrieden? Regnet es dort auch wieder so durch wie in Ihrer früheren? Das sind Gespräche, die man auf der Elektrischen und auf den Dampfern alle Augenblicke erhaschen kann. Es bleibt mir trotz aller Tätigkeit genügend Zeit, einige Sehenswürdigkeiten näher in Augenschein zu nehmen. Die Ere mitage mit ihren kostbaren Gemäldesammlungen, den Altertümern von Kertsch, der Galerie Peters des Großen, die Peter Pauls- Festung mit der Kathedrale, das Newsky-Kloster, die Isaak- Kathedrale, die zahlreichen Paläste und Denkmäler, überall empfängt man Eindrücke und entdeckt zahlreiche Erinnerungen und Erläuterungen zur russischen Kultur- und Sittengeschichte. Jetzt im Juni ist die Zeit der berühmten Petersburger weißen Nächte; nur eine leichte Dämmerung macht sich um Mitternacht bemerkbar, die Straßen sind nicht erleuchtet. Nur ungern kann man sich in dieser Zeit zum Schlafen entschließen. Lieber fährt man auf den flinken Dampfern für einige Kopeken nach den Inseln, nach Jelagin, Krestowsky oder mit der Bahn nach Pawlowsk oder Petcrhof. In den zahlreichen Sommergärten ist Konzert, Theater und Varistö; der Zoologische Garten, der Treffpunkt zahlreicher deutscher Familien, bietet mit seinem guten Orchester, seinem dem besseren Genre angehörenden Varistetheater einen schönen Aufenthalt an warmen Sommertagen. Die Tierwelt ist allerdings in diesem -Zoologischen Garten- nur in wenigen Exemplaren ver treten; immerhin erstaunt man, wie es möglich gewesen ist, einige dem tropischen Klima angehörende Tierarten unter dem sechzigsten Breitengrad zu akklimatisieren, überall herrscht frohes Leben und tönt Musik, und nicht selten fährt man vergnügt des Morgens Börsenblatt skr den Deutschen Buchhandel. 7S. Jahrgang. 1145