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,/F 120, 25. Mai 1905. Nichtamtlicher Teil. 4955 Jahrmärkte zu verdränge», weil sie der Phantasie zu wenig boten, und nur ein einziger Volksschriftsteller jener Zeit ver stand es die Belehrung in ein anmutiges Gewand zu kleiden: Pestalozzi in seiner Erzählung »Lienhardt und Gertrud» (1781). In der bekannten Kritik von Bürgers Gedichten, die Schiller 1791 schrieb, sind die Ansprüche an den Volks- dichter ein für allemal festgestellt. Seine Worte, die auch heute noch volle Geltung behaupten, lauten: »Welch Unter nehmen, dem ekeln (feinen) Geschmack des Kenners Genüge zu leisten, ohne dadurch dem großen Haufen ungenießbar zu sein — ohne der Kunst etwas von ihrer Würde zu vergeben, sich an den Kindervcrstand des Volkes anzuschmiegen. Groß, doch nicht unüberwindlich ist diese Schwierigkeit; das Geheimnis sie anfzulösen — glückliche Wahl des Stoffs und höchste Simplizität desselben. Jenen müßte der Dichter aus schließlich nur unter Situationen und Empfindungen wählen, die dem Menschen als Menschen eigen sind. Alles, wozu Er fahrungen, Aufschlüsse, Fertigkeiten gehören, die man nur in positiven und künstlichen Verhältnissen erlangt, müßte er sich sorgsam untersagen und durch diese reine Scheidung dessen, was im Menschen bloß menschlich ist, gleichsam den verlorenen Zustand der Natur zurückrufen. In stillschweigendem Ein verständnis mit den Vortrefflichsten seiner Zeit würde er die Herzen des Volks an ihrer weichsten und bildsamsten Seite fassen, durch das geübte Schönheitsgefühl den sittlichen Trieben Nachhilfe geben und das Leidenschaftliche, das der Alltagspoet so geistlos und oft so schädlich befriedigt, für die Reinigung der Leidenschaft nutzen. Als der aufgeklärte, verfeinerte Wortführer der Bolksgefühle würde er dem her vorströmenden, Sprache suchenden Affekt der Liebe, der Freude, der Andacht, der Traurigkeit, der Hoffnung u. a. m. einen reiner» und geistreicher» Text unterlegen; er würde, indem er ihnen den Ausdruck lieh, sich zum Herrn dieser Affekte machen und ihren rohen, gestaltlosen, oft tierischen Ausbruch noch auf den Lippen des Volks ver edeln. Selbst die erhabenste Philosophie des Lebens würde ein solcher Dichter in die einfachen Gefühle der Natur auslösen, die Resultate des mühsamsten Forschens der Einbildungskraft überliefern und die Geheimnisse des Denkens in leicht zu entziffernder Bildersprache dem Kindersinn zu erraten geben. Ein Vorläufer der Hellen Erkenntnis, brächte er die gewagtesten Vernunftwahrheitcn, in reizender und ver dachtloser Hülle, lange vorher unter das Volk, ehe der Philosoph und Gesetzgeber sich erkühnen dürfen, sie in ihrem vollen Glanz heraufzuführcn. Ehe sie ein Eigentum der Überzeugung geworden, hätten sie durch ihn schon ihre stille Macht an den Herzen bewiesen, und ein ungeduldiges, ein stimmiges Verlangen würde sie endlich von selbst der Ver nunft abfordern.» Schiller hat in seinen letzten großen Werken diese An forderungen an den Volksdichter erfüllt. Keinem der Vor gänger, auch Klopstock und Goethe nicht, ist es so wie ihm gelungen, die Befriedigung der höchsten künstlerischen An sprüche mit der höchsten Volkstümlichkeit zu verbinden. Auch Goethe hat es nur in seinen hinreißenden Jugendwerken vermocht, wo das Allgeineinmenschliche, die Schranken der Konvention durchbrechend, erschütternd und beseeligend jeden ergreift: in den Sesenheimer Liedern, im -Götz von Berlichingen-, im »Weither« (obwohl dieses Werk für dauernde und allgemeine Popularität schon zu fein diffe renziert ist), vor allem aber in der Gretchentragödie des -Faust»! Mit dem ersten großen Werke der Weimarer Zeit, der »Iphigenie», wendet sich Goethe von der charakteristischen, national gefärbten Kunst ab. Er hat von nun an kein volkstümliches Werk mehr geschaffen. Auch »Herrmann und Dorothea» konnte infolge der fremdartigen äußern Form trotz des deutschesten, allgemein verständlichen, rührenden und erhebenden Stoffes, trotz der Meisterschaft der Schilde rung jene fortreißende Wirkung auf die Masse nicht aus üben. Damals waren bereits die Romantiker hervorgetreten und hatten den Versuch gemacht, unmittelbar an die Volks kunst anknüpfend, eine Poesie von hoher Bedeutung in der einfachsten Form zu begründen. Ludwig Tieck hatte schon 1795 auf jene Volksromnne hingewiesen, die von alten Weibern auf der Straße für ein oder zwei Groschen verkauft wurden; der Gehörnte Siegfried, die Haimonskinder, Herzog Ernst und die Genoveva hätten mehr wahre Erfindung und seien ungleich reiner und besser geschrieben als die be liebten Moderomane. Aber es gelang weder ihm noch seinen Genossen, den älteren Romantikern, mit ihren Umdichtungen dieser alten Stoffe ins Volk zu dringen. Allzu sehr fehlte es dieser Stimmungskunst an Gesundheit, Kraft und Leidenschaft. Erst die große selbständige Natur Heinrichs von Kleist brachte in »Michael Kohlhaas», dem »Kätchen von Heilbronn- und dem »Prinzen von Hom burg« Werke hervor, die zum Allgemeinbefitz werden konnten. Gleichzeitig befruchtete die jüngere Generation der Romantiker durch des »Knaben Wunderhorn» die Lyrik mit einer Fülle von neuen Keimen, die durch einen Uhland, Eichendorff, Friedrich Rückert, Wilhelm Müller, Heinrich Heine, einen Blütenfrühling von unerhörtem Reich tum zeitigten. Zugleich wurde auch das Beste aus den fremden Literaturen durch eine zur Meisterschaft ausgebildete Übersetzungskunst dem deutschen Volke gewonnen. Aber abgesehen von der Lyrik brachte unsre eigne Dichtung in den ersten drei Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts nach dem Tode Schillers kaum irgend einen Zuwachs an Wertvollem und Bedeutsamem für das ganze Volk. Nur dort, wo die Ansätze zum Realismus hervor traten, lagen die Möglichkeiten neuer Entwicklungen und zugleich der erneuten Annäherung an das Leben des deutschen Bürgertums, das in den großen Taten der Freiheitskriege zu selbstbewußter Kraft erwacht, politisch und geistig gereift war. In den beliebten Schriftstellern aus dieser Zeit, den Engländern Lord Byron, Walter Scott, Bulwer, den Deutschen E. T. A. Hoffman», Jmmermann, Heine und Gutzkow, verbindet sich die romantische Überlieferung noch eng mit dem neuen Geiste, der zum erstenmal in der politischen Dichtung der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durch Herwegh, Hoffmann von Fallersleben, Freiligrath, Dingelstedt dem All gemeinempfinden begeisternden Ausdruck verleiht. Auch der größte Dramatiker dieses Zeitraums, Franz Grill parzer, ist mit seiner weichen Sinnlichkeit dem Fühlen der Zeit entgegengekommcn und hat durch seine ersten Werke (Ahnfrau, Sappho, Medea) allgemeinen Beifall gefunden. Aber im übrigen konnte das deutsche Drama bis 1830 keine Produkte mehr aufweisen, die mit reifer Kunst edle Volks tümlichkeit verbunden hätten. Wohl aber war gerade auf diesem Gebiet eine neue Gattung entstanden, die mit be scheidneren Ansprüchen Vortreffliches leistete. Aus der alten zuchtlosen Posse gingen erst die liebenswürdigen Wiener Volksstücke Ferdinand Raimunds, später die trefflichen Frankfurter Lokalpofsen von Karl Malß und die witzigen Berliner Possen von David Kalisch hervor. Es ist aufs tiefste zu bedauern, daß diese Ansätze des deutschen Volks- stllcks so schnell in fader Sentimentalität und schmutziger Spekulation auf die nieder» Instinkte verkümmert sind. So konnte Ludwig Anzengruber, der talentvollste unter den deutschen Dialektdramatikern, kein Publikum finden, und die Neuesten vermochten bei ihrem Versuch, der Heimatkunst auf 653'