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Nr. 88 (N. 28). Leipzig, Donnerstag den 8. Mälz 1928. 88. Jahrgang. NAMiomüer TÄ Zum 4Vvjährigen Todestage Albrecht Dürers. Am 6. April dieses Jahres kehrt der vierhundertjährige Todestag Dürers wieder/ und die Menschen, die den Einfluß dieses Genius heute noch fühlen, werden dankbaren Gemütes seiner gedenken. Wie im vergangenen Jahre der hundertste Todestag Beethovens in der ganzen Welt gefeiert wurde, er scheint es fraglich, ob Dürers Gedenken solche Feiern auslösen wird. Kaum! Denn die Musik wirkt weiter als die Malerei und die Graphik. Man begegnet häufig Menschen, die ergriffen werden von einem beseelten Gesangstück, von einem Streich quartett, von einer Symphonie, viel seltener aber findet die Handzeichnung eines großen Meisters, ein Holzschnitt oder Kupferstich, namentlich früher Meister, Verständnis. Wenn man diese Beobachtungen in Betracht zieht, so werden sich die Ge denkfeiern bei Dürers Todestage in engerem Rahmen abspielen als die Beethovens. Beide Meister sind merkwürdigerweise nur 57 Jahre alt geworden, haben aber sonst kaum etwas Analoges, es sei denn, daß jeder in seiner Kunst an allererster Stelle steht. Beethoven ist ein stürmender, drängender Geist, ein Neuschöpfer und Vollender zugleich. Dürers Genie ist von stiller Samm lung, tiefbohrend, grüblerisch, nicht revolutionär. Auf hand werksmäßigem Nürnberger Boden erwachsen, erstrebt und er reicht er die Tiefe und Höhe geistiger Spekulation und seelischen Erlebnisses, ausgedrückt durch seine Kunst. Auch abgesehen vom Inhaltlichen führt er den Kupferstich, den Holzschnitt in wenigen Jahrzehnten auf den Höhepunkt, eine erstaunliche Erscheinung; so hat er von Wohlgemuth, Pleydenwurf und Schongauer ge lernt, er hat in Venedig Mantegnas Meisterstiche und die Größe italienischer Maler aus sich wirken lassen, er hat die Holländer studiert, aber immer ist er Dürer geblieben vom Anfang bis zum Ende. Der deutsche Maler, der Radierer und Holzschneider, der Gotik und der Renaissance, von einer zur andern führend, von einer Formvollendung, Tiefe der Auffassung und des Aus drucks, wie keiner seiner Zeitgenossen und Nachfolger. Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, sein Werk zu umschrei ben, das haben unsere Kunsthistoriker reichlich und gründlich ge tan, nach allen Richtungen hin; als Maler wie als Graphiker, als Theoretiker wie als Christ und Philosoph ist Dürer von vielen kenntnisreichen Männern beleuchtet und gewürdigt wor den und wird es jetzt wieder werden. Nur den Fachgenossen ein Erinnern, ein Gedenken zu erwecken an das ergreifende Schöne, welches der Nürnberger Meister von Jahrhunderten uns geschenkt hat, will ich versuchen, indem ich dieses und jenes her aushebe und ausspreche, was ich empfunden, hauptsächlich bei Betrachtung seiner Kupferstiche und Holzschnitte, die uns Buch händlern am nächsten liegen und in denen Dürers Größe und Persönlichkeit wohl auch am reinsten ausgesprochen liegt. Die drei Passionen, das Marienleben, die Offenbarung Johannis, die Randzeichnungen zum Gebetbuch Maximilians sind die großen zusammenhängenden Folgen, die Dürer teils in Kupfer stich, teils in Holzschnitt geschaffen hat, wozu außer zahlreichen andern Blättern die bekannten Einzelblätter kommen: Adam und Eva, Ritter, Tod und Teufel, die Melancholie, Hierony mus im Gehäuse. Die vier letzten Blätter will der New Uorker Kollege Ederheimer auch als eine nichtvollendete Folge angesehen wissen, was er in einer englisch geschriebenen Arbeit nachzuweisen versucht. Die Leidensgeschichte Christi hat Dürer dreimal in einer Folge behandelt, zuerst 1509, die Kupferstichpassion in 16 Blättern in kleinem Quartformat; dann 1511 die große Holzschnittpassion in 12 Blättern in Folio, dann die kleine Holz- fchnittpassion in 36 Blättern. Von den monumentalen Blättern seien noch angeführt die Stiche: Geburt Christi; Christus am Kreuz; Das Schweißtuch, von einem und das von zwei Engeln gehalten; Der verlorene Sohn; die verschiedenen Madonnen; Die heilige Familie; Der heilige Hubertus; Der heilige Antonius; Hieronymus in der Wüste; Der Traum; Die große Fortuna; Der Spaziergang; Die Kanone; Erasmus von Rotterdam; unter den Holzschnitten: Christus am Kreuz mit der Engelbordüre; Die heilige Familie unter dem Baume; Die Jungfrau mit vielen Engeln; Die heilige Familie mit dem Hasen; Der heilige Georg; Die heilige Dreieinigkeit; Das Männcrbad; Der Ritter und der Landsknecht; Der Triumphwagen Kaiser Maximilians. — Dürer hat die Technik des Holzschnittes und der Kupferstichkunst aus die Höhe der Leistungsfähigkeit geführt; vom einfachen Umriß bis zur tonlichen Fülle des Bildes beherrscht er alle Arten des Verfahrens. Kunstgelehrte wie Bartsch, Heller, Friedländer, Waldmann und andere weisen in ihren Verzeichnissen der Werke des Meisters und in ihren Abhandlungen über ihn die Ent wickelung und den stetigen Aufstieg dieses einzigen Künstlers nach, einzig trotz vieler bedeutender Fachgenoffen und Nachfolger. Sehen wir von der technischen Vollendung ganz ab, so überragt Dürer in seinen Schöpfungen alle andern zeitgenössischen Maler und Graphiker durch die Tiefe seiner Auffassung, durch seine gewaltige Phantasie, die zugleich gepaart ist mit einem tiesbohren- den Verstand. Er vermag mit grüblerischem Gemüt sich von den irdischen Dingen ins überirdische zu heben, Seelenvorgänge durch seine Kunst zu offenbaren. Man betrachte daraufhin Blät ter wie die Melancholie, den Ritter, Tod und Teufel, den hei ligen Hieronymus in der Zelle, die vier nackten Frauen, den Traum, die große Fortuna, den Spaziergang; oder von den Holzschnitten: den apokalyptischen Reiter, die Eröffnung des sechsten Siegels, vier Engel die Winde aufhaltend, das Tier mit den Lammshörnern, den Engel mit dem Schlüssel zum Ab grund, die heilige Dreieinigkeit. Auf allen diesen Blättern tritt der spekulative grübelnde Dürer uns entgegen, wie er seine künst lerische Phantasie, sein inneres Gesicht von diesen Dingen in seiner speziellen Weise faßt und geisterfüllte Blätter mit Meister hand schafft. Versenkt man sich in diese Stiche und Holzschnitte, so erwächst aus ihnen das Charakterbild des Meisters; eine ruhige sinnende Natur, alles scharf erfassend und für seine künstlerischen Zwecke gestaltend. Geduldig trägt er sein Erbenlos, in enger bürgerlicher Gebundenheit, kein fürstliches Rasfaelleben, sondern der Mann eines Nürnberger Bürgerhauses, des gelehrten Pirk- heimec Freund, der protektorhast ihn zu überschauen meint, der Maler und Zeichner, der seine Werke zu verkaufen sucht, um seine Existenz zu gründen und zu erhalten, wie denn seine Reise nach den Niederlanden in seiner reifsten Zeit wohl der Zweck derselben war. Aus dieser bürgerlichen Lebensgestaltung und in ihrer Betrachtung erblühen denn künstlerische Blätter wie die Wochenstube Mariä und sonstige intime Szenen aus dem Marien leben. Dazwischen erschafft die Phantasie ein Blatt: der Traum. 261