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84 Klassisch oder romantisch? haben wir jenen ästhetischen Zustand, den die Kunst zu vervielfäl tigen bestrebt ist, und es ihrer Natur nach auch immer muß, wenn sie reine, höchste Kunst heißen will. Hier steht sie auch nicht mehr im Dienst von Zwecken, hier ist sie nicht mehr Sprecherin von Leidenschaften und Hoff nungen, sondern Vorgeschmack und zeitliche Erfüllung unserer einstigen und künftigen Bestimmung. Diesen Zustand in uns hervorzurufen ist klassisches Bestreben; es wird zwar nie ans Ziel gelangm, weil die höchste Kunst immer ein Ideal bleibt; aber es wird das Ziel dennoch keinen Augenblick aus dem Auge lassen und sich dadurch stets als klassisch erweisen. In dem Bereich der sittlichen Persönlichkeit hat sich das klassische Ideal den Begriff der „schönen Seele" geschaffen. Diese steht im lebhaften Gegensatz zu dem, was man den „romantischen Charakter" nennt. Eine „schöne Seele" haben wir, „wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfin dungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Ge fahr läuft, mit den Entscheidungen desselben im Widerspruch zu stehen. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigent lich nicht sittlich, sondern der ganze Charakter ist es. Man kann ihr auch keine einzige darunter zum Verdienst anrechnen, weil eine Be friedigung des Triebes nie verdienstlich heißen kann. Die schöne Seele hat kein anderes Verdienst, als daß sie ist. Mit einer Leichtigkeit, als wenn bloß der Instinkt aus ihr handelte, übt sie der Menschheit pein lichste Pflichten aus, und das heldenmütigste Opfer, das sie dem Natur triebe abgewinnt, fällt wie eine freiwillige Wirkung eben dieses Triebes in die Augen. Daher weiß sie selbst auch niemals um die Schönheit ihres Handelns, und es fällt ihr nicht mehr ein, daß man anders handeln und empfinden könnte; dagegen ein schulgerechter Zögling der Sittenregel, so wie das Wort des Meisters ihn fordert, jeden Augenblick bereit sein wird, vom Verhältnis seiner Handlungen zum Gesetz die strengste Rechnung abzulegen. Das Leben des letzteren wird einer Zeich nung gleichen, worin man die Regel durch harte Striche angedeutet sieht, und an der allenfalls ein Lehrling die Prinzipien der Kunst lernen könnte. Aber in einem schönen Leben sind wie in einem Tizian- schen Gemälde alle jene schneidenden Grenzlinien verschwunden, und doch tritt die ganze Gestalt nur desto wahrer, lebendiger, harmonischer hervor."») 1) Schiller, über Anmut und Würde. Werke, Säkular-Aug. Lotta« Bd. 11, S. 221 f.