72 Was ist christliche Dichtung? Ein gläubiges Zeitalter wird sich in einer Glaubenskunst genugtun: es trägt eine Glaubenssymbolik in das Leben hinein und sucht dieses aus ihr zu begreifen; eine kritische und skeptische Zeit bedarf vor allem „eines natürlichen Anhaltspunktes, um an demselben des übernatürlichen Lebens sich zu versichern". (Deutinger.) Mehr als Wissenschaft könnte hier eine starke, tiefe, echte Kunst Führerin zum Guten und Wahren durch das Schöne sein, nicht indem der Dichter das Wahre und Gute beweist, sondern indem er die Menschen es erleben läßt in beglückenden oder erschütternden Lebensschicksalen. Wie nun, wenn er dies niemals mehr vermöchte, als indem er sich ganz auf seine Kunst besinnen und sich ihrer Grenzen aufs deutlichste bewußt bleiben würde? Es wäre damit nur von neuem bewiesen, wie alle geistigen Tätigkeiten, wenn in reinlicher Scheidung nur nach ihren eigenen Gesetzen geübt, doch in ihrer metaphysischen Tiefe und psychologi schen Wirkung aufs engste zusammenhängen. Und in der Tat, auch der christliche Dichter dient seiner Zeit, die in ihrem natürlichen Leben die Erfahrung des übernatürlichen machen möchte, am besten, wenn er am wenigsten das übernatürliche direkt zu ergreifen sucht, und das Christen tum sowie die Geheimnisse seines dogmatischen Lehrinhalts nur als Letztes und ausnahmsweise zum Gegenstand der Poesie erwählt, Dieser Rat hängt unmittelbar mit der Beschränktheit seiner Darstellungsmittel zusam men, die durchaus an das sinnliche Vorstellungsvermögen gewiesen sind. Auch das übersinnliche vermag der Dichter nur in sinnlicher Einkleidung und in vermenschlichender Darstellung zu bieten. Alle phantasievollen Schilderungen aus der Welt des reinen Geistes haben etwas Willkürliches, Persönliches, ja Launenhaftes an sich. Sie sind dem Gesetz unseres Lebens entzogen und wirken als reine Phantasmen. Auch die Phantasie des Dichters hat ihre Grenzen. Wohl wird durch sie sein Gesichtskreis über die seiner Poesie in der Wirklichkeit sich darbietenden Objekte erweitert, nie mals aber über das in dieser Welt analog Erfahrbare hinaus. In diesem letzten Falle hört die Phantasie auf, künstlerische Bedeutung zu besitzen. Das gilt von aller Poesie des Transzendentalen bis in ihre jüngsten Erscheinungen, und Friedrich Schlegel hat recht, wenn er sagt: „es sei noch kein Versuch dieser Art (die Geheimnisse des Christentums un mittelbar zu ergreifen), so große Talente sich demselben auch gewidmet haben, in dem Grade gelungen, daß jedes Gefühl von Disharmonie weg fiele." Und an anderer Stelle sagt er klar und deutlich: „An und für sich aber ist das Christentum selbst nicht eigentlich Gegenstand der