Volltext Seite (XML)
Selbst das große intuitive Genie eines Dante vermochte nur zum geringen Teil die Ergebnisse der scholastischen Spekulation in dichterische Anschauung umzuwandeln. Nur soweit die Theologie seiner Zeit auch die durch rein mystische Kontemplation aufgefaßten ewigen Ideen umschloß und darbot, wurde sie für ihn fruchtbar. Es wäre wirklich ein mal an der Zeit, die fast als absolut dastehende Vorbildlichkeit Dantes als christlichen Dichters auf dasjenige Maß künstlicher Bewunderung ein zuschränken, bei welchem zwischen restlos Gelungenem und nur großartig Gewolltem unterschieden ist. Eine wirklich literarisch-ästhetische Würdigung der Commedia besitzen wir ja nicht. Bis jetzt wurde Dante uns ausschließ lich durch Theologen und Historiker vermittelt, welche naturgemäß die theologischen und zeitgeschichtlichen Gesichtspunkte voranstellten. Und doch wäre für den christlichen Dichter nicht nur an Dantes Vorzügen, sondern auch an seinen Fehlern zu lernen, gerade weil er wie kein Zweiter den Anschauungen des überzeitlichen Lebens Ausdruck zu geben wußte. „Gleichwohl", meint Friedrich Schlegel, „kann man nicht leugnen, daß die Poesie und das Christentum auch bei ihm nicht in vollkommener Harmonie sind, und daß sein Werk zwar nicht im ganzen, aber doch „Nun aber können die Begriffe, welche die Vernunft gebildet und das Ge dächtnis aufbehalten hat, nie alle zugleich dem Bewußtsein gegenwärtig sein, vielmehr nur eine sehr kleine Anzahl derselben zur Zeit. Hingegen die Energie, mit welcher die anschauliche Gegenwart, in der eigentlich immer das Wesentliche aller Dinge überhaupt virtualiter enthalten und repräsen tiert ist, aufgefaßt wird, erfüllt mit ihrer ganzen Macht das Bewußtsein in eineni Moment. Hierauf beruht das unendliche überwiegen des Genies über die Gelehrsamkeit: sie Verhalten sich zu einander wie der Text des alten Klassikers zu seinem Kommentar. Wirklich liegt alle Wahrheit und alle Weisheit zuletzt in der Anschauung. Aber leider läßt diese sich weder festhalten, noch mitteilen: allenfalls lassen sich die objektiven Bedin gungen dazu, durch die bildenden Künste und schon unmittelbarer durch die Poesie, gereinigt und verdeutlicht den andern vorlegen; aber sie beruht eben so sehr auf subjektiven Bedingungen, die nicht jedem und keinem jederzeit zu Gebote stehen, ja die, in den höheren Graden der Vollkommen heit, nur die Begünstigung Weniger sind. Unbedingt mitteilbar ist nur die schlechteste Erkenntnis, die abstrakte, die sekundäre, der Begriff, der bloße Schatten eigentlicher Erkenntnis. Wenn Anschauungen mitteilbar wären, da gäbe es eine der Mühe lohnende Mitteilung: so aber muß am Ende jeder in seiner Haut bleiben und in seiner Hirnschale, und keiner kann dem anderen helfen. Den Begriff aus der Anschauung zu bereichern, sind Poesie und Philosophie unablässig bemüht. („Die Welt als Wille und Vor stellung." Hrg. v. Griesebach. 2. Bd., S. 85 f., Leipzig.)