Konfession und Dichtung 49 Wenn wir heute von einer protestantischen oder auch nur akatholischen Dichtung reden, so können wir vernünftigerweise darunter nicht sowohl eine aus Grundlage protestantischer theologischer Begriffe, sondern nur eine solche verstehen, die aus allgemeinster protestantischer Le bensstimmung erwachsen ist?) Der Glaube an die absolute Freiheit des Christenmenschen von aller äußeren Form und Gebundenheit ist es, welcher heutzutage eine ge wisse Dichtung als eine protestantische empfinden läßt. Diese einseitige Sub jektivität, aus dem theologischen Begriff des konfessionellen Protestantis mus herausgewachsen, hat sich jedoch allmählich von seinem Mutterstamm emanzipiert und ist zur Freigeisterei geworden. Wohl entwickelt sie da und dort eine achtenswerte persönliche Frömmigkeit und eine gewisse humanitäre Ethik, hat aber vielfach nicht nur das Religiöse in allen seinen positiven, konkreten Elementen abgestreift, sondern ist zu einer rein naturalistischen Lebensanschauung herabgesunken. Ein großer Teil unserer literarischen Produktion bewegt sich in dieser Alternative. Gilt es demgegenüber den Begriff einer Dichtung aus katholischer Lebensanschauung zu bestimmen, so wird ihr allgemeinstes Kriterium in der Anerkennung objektiver Lebensmächte, einer übersinnlichen Welt zu suchen sein. Der von dem Boden der überlieferten christlichen Philo- 1) Döllinger gibt dem gleichen Gedanken in folgenden Worten Aus druck : „Die ganze deutsche Literatur seit Lessing ist der katholischen Literatur und dem Christentume ganz entfremdet. Das bedarf für den Kundigen auch als Tatsache keiner näheren Nachweisung. Ich wollte auch nur sagen, wie es so gekommen sei. Man kann nicht behaupten, daß die Literatur ein Erzeugnis des deutschen protestantischen Geistes sei, wenn darunter der ältere Protestantismus mit seinen bestimmten positiven Lehren und dem jenigen, was er von den gemeinsamen christlichen Wahrheiten bewahrt hat, verstanden wird. Nein, eine solche protestantische Literatur gibt es nicht in Deutschland. Ich darf kühnlich jeden herausfordern, mir die Erzeugnisse der Literatur zu nennen, in welchen sich der höhere Geist des Positiven Protestantismus etwa abspiegele. Sie existiert auch nicht, sondern diese Literatur ist so zustande gekommen: Nachdem der positive Protestantismus bereits zum Rationalismus abgeschwächt war und in Deutschland immer mehr und mehr unter den sogenannten Gebildeten jene dem Christentume entgegengesetzte Gesinnung, welche wir Rationalismus nennen, sich entwickelt hatte, hat diese herrschende Gesinnung die ganze deutsche Literatur seit Lessing hervorgebracht; also ist sie ein Erzeugnis des Rationalismus, also nicht die Tochter, sondern die Enkelin des Protestantismus." Rede gehalten Zu Linz 1880. Kleinere Schriften. Hrg. v. Reusch. Stuttgart 1890. S. 118. Muth, Die Wiedergeburt der Dichtung. 4