40 Theologie und Dichtkunst Meyenberg hat sich tatsächlich nur durch Lienhard, aber ohne dessen Schuld, auf Abwege führen lassen. Lienhard kann mit gutem Recht die durch Kant unseren Klassikern geleisteten Dienste in Anspruch nehmen, um von einer Klärung ihres Dichtergemütes durch diesen Philosophen zu sprechen. Kant war für sie nicht bloß ein Zeitgenosse, der in ihrer Sprach; und im lebhaften seelischen Kontakt mit den Problemen ihrer Zeit schrieb, er war auch derjenige, in dem sich der Rationalismus des Zeitalters selber überwand, und der unseren Dichtern schon dadurch ein Führer sein konnte aus der rationalistischen Seichtheit auf die Höhe einer universellen Kraftentfaltung ihrer dichterischen und mensch lichen Naturen. Aber den wesentlichen Einfluß von Kants Philosophie auf das Dichtergemüt unserer Klassiker möchte ich dennoch nicht einmal hier erblicken. Er ruht vielmehr auf einer Verbindung mit älteren, tieferen Erkenntnissen und Einsichten, für die der Philosoph gleichsam nur ein Bindeglied, ein Vermittler ist, und zwar ein um so wirksamerer, als er diese Wahrheiten in zum Teil eigenartigen Verknüpfungen mit seinen wissenschaftlich-theoretischen Bemühungen darbietet. Was an Kant heute noch selbst solche anzieht, die in ihm den Totengräber aller möglichen Gewißheit einer objektiven Erkenntnis bekämpfen, das ist sein ethischer Idealismus und was sonst in dem aus der Leibnitz-Wolffschen Schule hervorgegangenen Denken von christlichen Anklängen noch weiter schwingt. Indem unsere Klassiker, insbesondere Schiller, an diese praktisch moralische Gedankenwelt Kants anknüpften, und zwar mit feinster Aus lese durch ihren dichterischen Instinkt für das Echte und Wahre, knüpften sie unbewußt an das Evangelium und die tiefe christliche Wahrheit von dem zentralen Wert der menschlichen Seele und des selbständigen Gewissens an. Lienhard sagt in dieser Beziehung sehr wohl: „Kant appellierte an den seelischen Adel und drängte darauf hin, die Gottesmacht in uns wach werden zu lassen, damit sie sich als Vernunft oder als Gewissen offenbare. So wirkte er als Befreier von Spekulationen, als Befreier zur Tat. Dies ist die praktische Seite von Kants Bedeutung/") Aber unsere Klassiker taten mehr als an Kant anknüpfen, sie über wänden ihn zum Teil, und auch das bedeutet Klärung ihres Dichter gemütes im — Gegensatz zu Kant. Ich denke hier nicht nur an den rigoristischen Sittlichkeitsbegriff Kants, dem Schiller abstrakt, 1) Wege nach Weimar. III. 243.