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phantasievolles Schaffen viele Quellen versiegen und wie schnell mit diesen der grünende Hauch verschwinden, den ihre belebende Kraft selbst noch auf den ödesten Strecken des praktischen und des gelehrten Wirkens hervorzaubert! Selbst die Religion, so viel unausgesprochene Poesie in ihr auch liegt, bedarf zu gewissen Zeiten auch der Zunge des Dichters und Künstlers, um ihre ganze Macht über das menschliche Gemüt entfalten zu können. Gerade die geistige Entfaltung des Katholizismus in der Literatur, Kunst und Wissenschaft wird heutzutage für die draußen Stehenden die wirksamste Beglaubigung seines höheren Wesens, seiner kulturschöpferischen Kraft und seiner volksbildenden Ansprüche sein! Sollte der Katholizismus in seinen Bekennern heute nicht mehr vermögen, was er ehedem vermochte? Viele glauben und behaupten es. „Der Katholizismus," sagt ein heute nur wenig beachteter Schriftsteller und spricht damit die Überzeugung vieler aus, „der Katholizismus wollte ursprünglich universell sein und hat die Idee einer Offenbarung des Göttlichen an alle dafür empfängliche Organe der Menschen lange bewahrt. Er nahm die religiöse Tatkraft, die sich freudig opfert oder für den Himmel mutvoll streitet, die innige Gottes minne, die süße Andacht, das tiefste Gefühlsleben, er nahm die Dar stellung des Göttlichen im Raume, die Kunst, eine heilige Sinnlichkeit und endlich auch die Philosophie, ein gründliches Erforschen des Gött lichen in sich auf. Er öffnete dem Menschen jeden Weg, der aus dem Irdischen ins Ewige hinüberführt. Tat, Bild, Gedanke, Gefühl durch drangen sich überall und waren doch im ganzen nur eins. Und das war es eigentlich, was dem Katholizismus so große Gewalt über die Menschen verlieh, und was noch jetzt als in ihm fortlebende Idee nicht verfehlt, selbst seinen Gegnern Ehrfurcht einzuflößen/") Aber diese Gewalt ist auch heute noch nicht verloren, und kann jederzeit aus der Idee wieder neu hervortreten. Ja, dieser Einfluß wird tatsächlich noch ausgeübt, nur „trägt die katholische Literatur", sagt Menzel, „wenig oder gar nichts dazu bei." Die tiefere Ursache dieser Erscheinung hat Menzel mit scharfem Blick erkannt. Er sieht in dem Katholizismus wie in keiner anderen Religion „die Richtung nach or ganischer, den ganzen Menschen umfassender Erkenntnis und Anbetung Gottes. Noch haben die Sinne, das Gemüt, der Verstand und das tätige 1) Wolfgang Menzel, Die deutsche Literatur. Stuttgart 1836. I. Bd. S. 131 f.