166 Was eine Literatur bedeutet Hervorbringungen immer wieder die Einseitigkeit des nur Interessanten und zu literarischen Zwecken Verarbeiteten. Können wir somit von einer deutschen Gegenwartsliteratur als einem irgendwie einheitlichen Niederschlag des Volksempfindens nicht reden, so haben wir dennoch in unserer Literatur einen ziemlich treuen Spiegel all jener Zersplitterungen, die unsere gegenwärtige Kultur charak terisieren. Wir dürfen fagen, alle diese Klassen, Stände, Gruppen haben ihre Sprecher in Dichtern gefunden, die es mehr oder minder verstanden, die Eigentümlichkeiten der Weltanschauung, Sitten, Gebräuche und Rede weisen, überhaupt der Lebensführung und Geschäftsgebahrung dieser Kreise in Bild und Wort festzuhalten und der Nachwelt zu überliefern. Für die Geschichte der Dichtung kommen die meisten Erzeugnisse allerdings weniger in Betracht als für die Kulturgeschichte. Aber auch dem Kultur historiker ist es nicht einerlei, welchen Wirklichkeitswert solche literarischen Dokumente haben. Denn sie können mit dem Wahrheitssinn des scharf sichtigen Kulturpsychologen wie auch mit dem oberflächlichen Bestreben des Unterhaltungsbelletristen geschrieben sein. Da aber der Unterhaltungs belletrist stets von dem Urteil der Kritik abhängig ist und nur zu schreiben wagt, was weder den Ruf seiner Gesinnung noch die Zugehörigkeit zu seiner Gruppe zu gefährden imstande ist, so verliert sein Schaffen auch noch jenen letzten Rest literarischer Bedeutung, den er etwa durch die stoffgeschichtliche Betrachtung hätte noch behalten können. Es muß leider gesagt werden, daß auf katholischer Seite neben ästhetisierenden Wiederholungen des Früheren diese zuletzt bezeichnete Art der Literatur die einzige ist, welche sich der wirklichen Gunst und der Förderung rühmen kann. Versucht man diese Literatur der deutschen Katholiken als geistes geschichtlichen Niederschlag zu betrachten, — was glaubt man wohl, daß Großes an die Zukunft durch sie überliefert werde? Man wird ihr höchstens die Anerkennung zollen müssen, daß sie sich von gewissen Ausschreitungen der Zeit ferngehalten habe, aber man wird ihr nicht nachrühmen können, positive Werte, die bisher innerhalb oder außerhalb ihres Kreises nicht existierten, geschaffen zu haben. Unter den deutschen Katholiken herrscht eben vielfach noch eine Auffassung der Literatur, die sich mit allen ihren übrigen geistigen Bestrebungen nur schlecht zusammen reimen läßt. Sie darf gerade als die wesentliche Ursache der geringen Leistungen aus diesem Gebiet genannt werden. Denn nur mit einer hohen Vorstellung von der Literatur ist jene geistige Weite und Freiheit