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138 Von „schassenden Autoren" setzt, schwerlich antressen. Wohl ist hier manche schöne Weisheit nach Art von Goethes Alterslyrik anmutig in Reime gebracht, wohl gelingen ihm ab und zu in sich abgerundete schöne Strophen, ein voll kommenes Gedicht oder Lied jedoch nie. Aus mehreren spricht in glücklich gewählten Formen ein bald heiteres, bald ernstes Tempera ment; aber tiefere Leidenschaft, in ruhiger Form gebändigt, sucht man vergebens. Das Beste sind die reflektierten Stimmungen, dagegen miß lingt ihm durchwegs das Naturbild, weil dieses ja immer unmittelbare Auffassung verlangt. Ein neuer Frühling geht ins Land, Weckt mich mit ungestümer Hand; Wie manchen hab ich Wohl verschlafen, Bevor mich dessen Strahlen trasen? Man braucht wahrlich nicht an die bekannten Vierzeiler Mörikes, Uhlands oder auch Greifs zu denken, um zu erfahren, daß hier im Grunde gar nichts ausgesprochen ist. „Die Weihelieder und Festgedichte" (1901) sind Kraliks letzte lyrische Gabe. Von seinen Freunden werden sie als das Stilvollste seines ganzen Schaffens empfunden. Der Verfasser selber nennt sie ein „geschlossenes Programm" und entwickelt des weiteren in einem Vorwort Gedanken, die ich, soweit sie allgemeines betreffen, durchweg teile und, zur Er gänzung eigener Gedanken, in dieser Schrift wörtlich wiederholen könnte. Aber selbst wenn ich mir vergegenwärtige, daß dieses „papierene Büch lein", wie der Autor sagt, nur „ein Hilfsmittel" sei, das sich „zu dem vollen lyrischen Kunstwerk" verhalte „wie das Textbuch zu einer Oper und das Konzertprogramm zum Konzert", daß es somit nicht für sich beurteilt werden wolle, so kann das doch nicht heißen, daß es überhaupt kritischer Würdigung entzogen sei, oder daß man es nur und ausschließlich mit Musik und Gesang vereinigt beur teilen könne. Die richtige Beurteilung setzt allerdings die Kenntnis dieser Gattung von dichterischen Texten voraus und hat sich darüber klar zu sein, daß die Kunst des Dichters hier vor allem darin zu be stehen habe, die Subjektivität zugunsten eines allgemein gültigen, die Gesamtheit der Hörenden objektiv, sozusagen monumental ansprechenden Ausdruckes zu verleugnen. Das schließt aber keineswegs aus, daß die Form in sich schön, plastisch, voll Kraft, ja Erhabenheit sei, daß sie gleich dem Hohenliede der Bibel mit lyrischem Schwung und Bilder reichtum einhergehe oder wie die Psalmen in Wucht und Würde zu