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124 Schöpferische Kritik Stapfen trete!" so flehte der Kanzler, „und waren auch seine Worte nicht allesamt christlich, so wurden es seine Werke mehr und mehr." Ein Kritiker, der mit nur einigem psychologischen Tiefblick an diese Gestalt herantritt, kann unmöglich von ihr sagen, Rache sei darin das treibende Motiv, noch kann er den Dichter bezichtigen, ein „moralisches Ungeheuer" geschaffen zu haben. Selbst wenn Meyer nicht ausdrücklich erklärt hätte: „Mein Decket ist ein edler Charakter, seine Buße eine echte, und das ist das Verhängnis des Königs, daß er sich immer in seinem Kanzler täuscht", so dürste doch eine Kritik, die den höheren Aufgaben gewachsen sein will, sich nicht so vollständig in der Auffassung vergreifen. Um ein hervorragendes Werk unserer Literatur als ungeeignet für eine katholische Volksbücherei zu bezeichnen, braucht man es wahrlich nicht zu verkennen, wie Herz. Wie viel einleuchtender und richtiger wäre es doch gewesen, die Ablehnung damit zu begründen, womit sie allein begründet werden kann, mit dem Hinweis einerseits auf die geschichtliche Unreife der meisten Leser aus dem Volk, diese Dichtung aus ihrem histo rischen Untergrund heraus ohne persönliches Ärgernis zu verstehen, an dererseits auf die Ungerechtigkeit, mit der darin dem Papst Alexander III. persönliche Bestechlichkeit und Geldgier zur Last gelegt wird. Das ist aber auch der einzige Punkt, wo dem Dichter vom Standpunkt der Geschichte ein begründeter Vorwurf gemacht werden kann. Alexander III. war nicht, wie so mancher andere Papst, von ungeordneter Liebe zum Gelde besessen, mochte es auch den Zeitgenossen, besonders in England, so scheinen. Wohl aber hatten sich die meisten Kardinäle nicht davon frei gehalten. Der Bischof Hefele berichtet in seiner Konzilien-Geschichte?) daß die in englischen Diensten stehenden Kurien-Kardinäle, von denen nur drei durch Geld unbestochen geblieben seien, die Absetzung des Primas betrieben hätten, indem sie dem Papste als Entschädigung eine Erhöhung des Peterpfennigs in Aussicht stellten. Besser jedoch als die meisten Zeitgenossen konnte Thomas Becket unterrichtet sein; er durfte daher bei der letzten Begegnung mit dem König nicht so sprechen, wie ihn der Dichter über den Papst sprechen läßt. Schon deshalb nicht, weil er in seinem damaligen Zustand vollständiger Selbstentäußerung für all diese Dinge kein Auge mehr haben kann. Was jedoch die übrigen Äuße rungen des Königs und seines Kanzlers gegen kirchliche Mißstände be trifft, so darf ein unterrichteter und gewissenhafter Kritiker nicht, wie z. B. 1) Bd. V, S. 567, 589, 590, 593.