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Schöpferische Kritik Aus dieser Erkenntnis heraus hat der Dichter seine Zuflucht zu einem Mittel genommen, das in gleicher Weise von seiner tiefen Menschen kenntnis wie von seiner hohen künstlerischen Weisheit zeugt. Er läßt den Thomas in einer halb märchenhaften Vergangenheit Vater einer Tochter werden und dieses sorgfältig wie ein Kleinod behütete, innigst- geliebte Kind in verhängnisvoller Stunde der rohen Gier seines Königs zum Opfer fallen, dann aber die an Leib und Seele also Zerstörte zugrunde gehen?) Keine andere, keine noch so große persönliche Kränkung würde den Zweck dieses Geschehnisses haben erfüllen können. Ein König, der sich an der unschuldigen Jugend vergrifs, galt als der göttlichen Gerechtigkeit verfallen, selbst wenn der Vater hätte verzeihen und vergessen können. Würde der Dichter eine persönliche Beleidigung zum Ausgangspunkt der langsamen Entfremdung zwischen dem Kanzler und seinem Herrn gewählt haben, so wäre des Kanzlers Charakter in unseren Augen kaum von einer Geringschätzung zu bewahren gewesen. Es wäre in der Tat ein Anschein von Rache auf seine spätere Unnachgiebigkeit gegen den König gefallen. Wann aber hätte man erlebt, daß ein Mensch sich aus Rache von einem üppigen Weltleben zu einem Leben der Buße und der Einkehr gewendet hat? Mit einer Todeswunde im Herzen rächt man sich nicht! Des Thomas' Seele wurde seit jenem ungeheuren Schmerz, den ihm der König zubereitet, nicht nur den Dingen dieser Welt mehr und mehr ent fremdet, sondern hatte auch Anschluß an jenen „Anderen" gesucht und ge funden, der am Kreuz noch für seine Mörder bat. „Verscheuche den Geier des unversöhnlichen Grames, der mein Herz verzehrt, damit ich in deine 1) Wer dem Dichter hier einen Vorwurf daraus machen will, daß er die Epoche der Weltlichkeit des Thomas mit phantasievollen Zutaten schmückt, der vergißt nicht nur, daß die Legende hier in jedem Betracht vorgearbeitet hat, sondern bedenkt auch nicht, welcher Freiheit in diesem Punkt z- B. der mittelalterliche Dichter genoß. Um von vielen Beispielen nur eines anzuführen: In seiner Dichtung „Gregor vom Steine", deren Hauptgestalt Papst Gregor VII. ist, hat Hartmann von Aue einer Legende Raum gegeben, der zufolge dieser hl. Papst einem blutschänderischen Ver hältnis entstammt und sogar die eigene Mutter geehelicht hat. Ich habe noch nie gelesen, daß ein katholischer Literarhistoriker sich darüber entrüstet hätte. Eine kurze Jnhaltangabe findet man bei Lindemann, Geschichte der deutschen Literatur (8. Ausl., herausgegeben von Ettlinger, Freiburg 1906, S. 95), wo jedoch nicht erwähnt ist, daß es sich um die Gestalt Gregors VII. handelt. — Von König Heinrich II. von England sagt C. F. Meyer mit Recht, daß die Geschichte noch schlimmere Taten als die ihm hier zugelegte berichte.