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116 Schöpferische Kritik hat angefangen zu arbeiten, ohne selbst zu wissen, was er machen will, alsdann muß man so gutherzig nicht sein, und einer schönen Hand wegen ein häßliches Gesicht, oder eines reizenden Fußes wegen einen Buckel übersehen. Und daß dieses, wie billig, unsere Verfasser nur sehr selten getan haben, darin besteht ihre ganze Strenge. Denn einige Male haben sie es doch getan, und mär sind sie noch lange nicht strenge genug."*) „Noch lange nicht strenge genug" — das muß auch die Empfin dung sein, die uns beschleicht, wenn wir betrachten, was uns heute an Kritik zur literarischen Erziehung im eigenen Lager meistens geboten wird. Ich meine damit nicht bloß die Kritik gegen unsere eigenen Autoren, ich meine damit auch nicht eine nur angreifende oder auf räumende, klärende, sichtende, abgrenzende Kritik etwa im Sinne von Lessings kritischem Kanon: „gelinde und schmeichelnd gegen den An fänger, mit Bewunderung zweifelnd und mit Zweifel bewundernd gegen den Meister; abschreckend und positiv gegen den Stümper; höhnisch gegen den Prahler, und so bitter als möglich gegen den Kabalen macher" — ich habe jetzt vielmehr jene Kritik im Auge, die das Er lebnis des Lesers befördert, die ihm die Hemmnisse des Ver stehens beseitigt und ihn reif macht zur Aufnahme alles Lebendigen, kurz, die ihn lesen lehrt, wie man einen Dichter lesen muß, nicht nur mit den Augen, nicht allein mit dem Verstände, sondern mit allen Kräften zugleich und immer wie einen Zeitlosen — die beste Probe, wenn sie gelingt, auf ein echtes Künstlertum. Hier liegt eine große Aufgabe, für die noch so gut wie nichts getan wurde. Ihre Lösung wird im selben Maße dringend, als wir uns neu herauskommenden Talenten gegenübersehen. Was es heißt, wenn diese Kunst des Lesens gebricht, das haben wir ja erfahren, als man sich unlängst vor Auf gaben gestellt sah, die nicht einmal von den schwersten waren, ich meine vor jene Romane E. von Handel-Mazzettis, die man nur deshalb be kämpfen konnte, weil man ihr Letztes, ihr Seelisches nicht erfaßt hatte, weil man daraus jenes tiefen Erlebnisses einer Liebe nicht teilhaftig geworden war, die allen Streit und Kampf unmöglich gemacht hätte. Was hätte hier Kritik zu leisten! Aber es müßte ein großer, weit herziger, freier und befreiender Zug darin sein! 1) Lessings Werke 3. Band S. 191 f.