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114 Schöpferische Kritik Prüfung — die man aber um alles nicht Mit der des Rezensenten verwechsle — überhaupt für würdig hält, wird er zunächst den red lichen Versuch machen, die wirklichen Absichten des Verfassers, des Dich ters durch eine genaue inhaltliche Analyse zn verstehen. Schon in dieser Analyse hat sich das tiefere Kunstgefühl des Kritikers zu be währen, ohne welches eine wirklich wertvolle und kritisch brauchbare Analyse gar nicht zustande kommen kann. Ist der Kritiker hier zu einem sicheren Ergebnis gelangt, hat er außerdem die vom Dichter viel leicht nicht persönlich beabsichtigten, aber tatsächlich vorhandenen Er gebnisse, Aufstellungen, Wirkungen oder Konsequenzen des Werkes richtig erkannt und erwiesen, so wird er, je nachdem ihn seine eigene sitt liche Überzeugung dazu nötigt, diese Ergebnisse, Aufstellungen, Wir kungen oder Konsequenzen entweder gutheißen oder modifizieren oder ablehnen. Da aber nicht selten ein auch scheinbar übler Stoff, ja sogar eine gewagte und an sich verdächtige Idee allein durch eine geschickte und dialektisch-pragmatisch kluge Behandlung noch zum Guten oder wenigstens Ungefährlichen gewendet werden kann, so wird der Kritiker dem Mißtrauen seiner Leser auch noch so weit entgegenkommen, daß er in eine Untersuchung der Mittel des Dichters eintritt, um dann hier durch den Nachweis psychologischer Versehen, z. B. der unwahrscheinlichen Führung der Handlung oder gar durch den Nach weis, es seien hier kunstwidrige Mittel zur Anwendung gelangt, Wie sophistische Überredung, rhetorische Dialektik und dgl., sein Urteil endgültig zu begründen. Er wird in unserem Falle das inhaltlich Verfehlte um so nachdrücklicher und eindrucksvoller bedauern, je mehr das Geschick des Dichters einer besseren Sache würdig gewesen wäre. Aber im umgekehrter Falle muß es ihm nicht minder beklagenswert erscheinen, wenn er einen gut gesinnten Poeten sieht, dem es aber an der Fähigkeit gebricht, seine innere Welt künstlerisch wirksam herauszustellen. Der Einwand, es möchten unter seinen Lesern solche sein, die durch die Erwähnung der formalen Vorzüge des Werkes verleitet werden könnten, dennoch zu dem Werk zu greifen, wird bei ihm nicht verfangen; denn wie könnte er auch für die Gewissenlosigkeit anderer verantwortlich gemacht werden? Sein ehrliches Vorgehen findet jedoch eine Rechtfertigung noch in anderer Beziehung. Es ist nämlich sehr wahrscheinlich, daß die meisten Leser seines Urteils auch andere Urteile vernehmen werden, welche die künstlerischen, die formalen Vorzüge des Buches hochstellen, alles andere aber mehr