108 Schöpferische Kritik gefühlen teil, die den Künstler beim ersten Hervorbringen erfüllten, sondern er geht anch darüber hinaus durch selbständige Kombinationen seiner Phantasie und seines Verstandes. Wer hier ist auch der Punkt, wo der Kritiker mit dem persönlichen Hochmut der Produzierenden leicht in einen Gegensatz gerät. Das wird immer dort der Fall sein, wo es sich um künstlerische Halbtalente handelt, denen wohl Lebhaftigkeit des Gefühles und der Anschauung, nicht aber auch eine gleich große Fähigkeit des Objektivierens eigen ist. Insofern der Kritiker hier durch den Künstler im Stich ge lassen wird, kann es nicht ausbleiben, daß er durch den Ausdruck der Enttäuschung sich den Künstler zum Gegner macht. Denn dieser hatte seine Hoffnungen ebensosehr auf feine Leistung wie auf die Nach sicht derer gesetzt, für die er schrieb. Und in der Tat, diese Hoffnung wäre nicht getäuscht worden, hätten die Vielen sich nicht die Augen des Kritikers geborgt. Der vollbürtige Künstler hingegen bedient sich der Augen und Einsichten des Kritikers gern. Er weiß: für das Lebendige seiner Schöpfung hat er davon nichts zu befahren. Wohl aber wird er sich der Ursachen und WirkuwjM desselben durch die Arbeit des Kritikers bewußt, der seine Aufgabe darin sieht, diese Ursachen und Wirkungen zu untersuchen und ins Licht zu stellen. Und hier beginnt auch das schöpferische Wirken der Kritik für die Vielen. Es hat seine Notwendigkeit und Rechtfertigung in der ein fachen Tatsache, daß das Kunstwerk immer nur von einer verhältnis mäßig geringen Anzahl von Menschen intuitiv aufgefaßt und so mit einemmal in all seinen Beziehungen überschaut wird. Die größere Zahl der Beurteiler und der Genießenden wird erst durch analysierende Be trachtung zu tieferem Verstehen gebracht und bedarf daher der einfüh renden Bemühung der Kritik. Indem diese den Organismus des Werkes sozusagen zerlegt und vor der Phantasie des Lesenden wieder aufbaut, so daß dieser nicht bloß die formale Gliederung des Werkes (Architek tonik), sondern auch dessen innere Form*) (Gehalt) und ihre rhyth- 1) Was man unter dieser zu verstehen hat, mag mit den Worten Goethes gesagt sein: „Deswegen gibt's doch eine Form, die sich von jener (der äußeren) unterscheidet, wie der innere Sinn vom äußeren, die nicht mit Händen gegriffen, die gefühlt sein will. Unser Kopf muß übersehen, was ein anderer Kopf fassen kann; unser Herz muß empfinden, was ein anderes fühlen mag."