Modernität 97 Jedenfalls muß zugegeben werden, daß die neue Zeit die größte Mannigfaltigkeit des Inhalts aufweist. Sie „nimmt", um mit den Worten Willmanns zu reden, „von allen früheren Perioden an und möchte deren Bildungsideale auf ihren Boden verpflanzen; sie ist empfänglich für dre Schönheit des Griechentums, für den begeisterten Aufschwung der Renaissance, für die gediegene Wissensfülle der älteren Polymathie/) sie möchte aber auch den christlichen Idealismus nicht missen, der die Münster getürmt und Dantes Geist befitticht hat"?) Liegt hierin einerseits ein gewisser Eklektizismus, so doch andererseits auch alle Hoffnung auf eine große, inhaltsreiche Kultursynthese. Ihr organisierendes Prinzip zn finden, darf man als die dringendste und mit Leidenschaft angefaßte Aufgabe der Gegenwart bezeichnen. Was wir unsere klassische Dichtung nennen, gehört in diesen Rahmen nicht minder als die gesamte romantische Bewegung. Beide sind eine Frucht des modernen Geistes, im Gegensatz zum Geiste des Mittelalters, genau so wie jene neueste Epoche unserer Dichtung, die wir gewöhnlich, aber nur im engeren Sinne, als die moderne zu bezeichnen pflegen. Diese neueste Epoche wird häufig auch die realistische genannt, und Realismus, wenn auch oft einseitiger Art, ist gewiß ihr auszeichnendes Merkmal. Dennoch werden wir gut tun, uns bei all solchen doch immer nur aus der augenblicklichen Zeitstimmung aufgesaßten Schlagworten zu erinnern, daß das gleiche Wort seinerzeit auch auf die goethesche Poesie angewandt wurde. Es geschah, um sie als neu, ja sogar als unpoetisch zu kennzeichnen. Die es taten, empfanden richtig, daß in der goetheschen Dichtung eine bisher nicht dagewesene Einbeziehung neuer Lebenswerte und neuer Empfindungen stattfand und daß auch die Aus drucksweise eine dementsprechende: eine realistischere geworden war. Und doch gilt uns heute die Dichtung unserer Klassiker als idealistisch, ohne daß wir dafür Gründe anführen müßten. Ich will mit diesem Vergleich auch durchaus keinen Analogieschluß für unsere Zeit herausfordern. Denn zwischen unserm Realismus und demjenigen unserer Klassiker be steht nicht bloß ein gradueller, sondern auch ein prinzipieller Unterschied: Wo unsere Zeit den Glauben an die überlegene Macht und objektive Bedeutung des Geistigen preisgab, mußte ihr Realismus zu einem 1) gr. -rotv/iäSe-a—vielseitige Lernbegierde; im 17. Jahrhundert sagte man Enzyklopädie oder Erudition (vgl. Willmann, Didaktik als Bildungs- lehre. 3. Aufl. Braunschweig 1903. 2. Bd. S. 183). 2) ib. Bd. 1 S. 400. Muth, Die Wiedergeburt der Dichtung. 7