Modernität 95 Werfen wir nun zunächst einen raschen Blick auf die neuzeitliche Literaturrichtung und versuchen dann, die Rolle, welche der Gegenwarts dichtung darin im besonderen zugeteilt ist, ins Auge zu fassen. Der literar-historische Begriff der modernen Dichtung ist haupt sächlich durch die romantische Kritik eingeführt worden. Indem diese von dem klassischen Ideal der Antike ausging, faßte sie die ganze Poesie sowohl des Mittelalters wie der neueren Zeit als moderne Dichtung in einen großen Gegensatz zur klassischen zusammen. In dieser all gemeinen Gegenüberstellung will die Bezeichnung nichts anderes be sagen, als was Schiller durch die Begriffe naiv und sentimentalisch, und andere durch die Begriffe klassisch und romantisch oder auch schön und charakteristisch ausdrücken. Wenn wir heute von moderner Dichtung sprechen, sind wir weit davon entfernt, ihren Kreis so weit auszudehnen. Wir sind sogar geneigt, den Begriff so eng und schwankend zu fassen, daß wir die sozusagen vor unseren Augen entstehende Literatur jeweils nur mit diesem Ausdruck benennen. Damit folgt man jedoch mehr einem oberflächlichen als einem tiefer begründeten Einteilungsprinzip: Ein solches verlangt eine Gliede rung nach innerlich bewegenden Kräften und Eigentümlichkeiten. Wenn z. B. Friedrich Schlegel in seinen „Studien über das klassische Altertum" den Gegensatz der klassischen Poesie zur modernen darin erblickt, daß dort das Schöne, hier aber das Charakteristische und Interessante wirksam sei, so werden wir in der Gegenwart, die ja zur Erkenntnis ihrer Eigenart hauptsächlich durch vergleichende Betrachtung mit dem Mittelalter gelangt, uns getrieben fühlen, auch für die Dichtung ein auszeichnendes Merkmal zu finden, das diesen Unterschied zum Ausdruck bringe. Ohne mich in Einzelheiten zu verlieren, möchte ich dieses Unterscheidende darin sehen, daß, während die mittelalterliche Dichtung vorwiegend Sagen- und Legendendichtung, also Phantasiedichtung war, die neuzeitliche, welche dieser poetischen Stoff welt durch die eingetretene Geistesumwälzung verlustig gegangen ist, sich dem natürlichen Leben zuwandte und so notwendig von der Phantasie dichtung zur realistischen übergehen mußte. Aber die neue Zeit sucht das „Interessante" nicht mehr ausschließlich in der Welt der Phan- tasie, sondern vorwiegend in der uns umgebenden Wirklichkeit. Diese gerade in der neuesten Zeit durch die letzte große Wendung der Literatur stärker als je uns zu Bewußtsein gebrachte Tatsache verlangte ihre Formulierung und fand sie in dem von Julius Wolf ge prägten Ausdruck „die Moderne". Er ist in Analogie zu dem gebildet,