94 Modernität überlegen Kunstbegriff praktische Bedeutung und lebendige Wirksamkeit zu geben. In solchen Epochen gehört es zu den ehrenvollsten Aufgaben der Kritik, im Bunde mit dem echten Künstler, gegen entartete und falsche oder eingeengte und philisterhafte Vorstellungen von Kunst und Poesie zu streiten. Wie aber, wenn es in gewissen Zeiten an solchen Künstlernaturen gebricht? Denn diese führende Rolle der Kritik setzt bereits vor handene dichterische Kräfte voraus, denen die Kritik wohl die ersprießliche Richtung zeigen, wenn auch nicht den Betätigungsdrang und das Ge- staltungsvermögen zu geben fähig ist. Bei dieser Lage wird die Kritik zunächst zur Lebensweckerin werden müssen, überall, wo die Kraft des Künstlerischen nicht in die Erscheinung tritt, liegt ein Mangel geistiger Freiheit vor, sei es gegenüber der Natur, sei es gegenüber den sozialen Mächten. Diese Freiheit zu erkämpfen, ist dann das dringendste Geschäft der Kritik. Sie tut es positiv durch Aufrufung der Selbsttätigkeit, der geistigen Selbständigkeit und des kritischen Vermögens; negativ durch den Kampf gegen alle Eingeengtheit, entspringe diese nun dumpfen und eingeschüchterten Vorstellungen oder dem Druck äußerer Verhältnisse. Ehe diese Entwicklung der künstlerischen Kraft, die man nur freilegen, nicht aber mitteilen kann, nicht bis zu einem gewissen Grad gediehen ist, wird weder der Künstler noch der Kritiker die Frage der eigentlichen Knnst- bildung aufzuwerfen haben. Denn wo kein bewegendes Leben ist, wird auch die Erörterung des Zieles, der Richtung von selber überflüssig. An künstlerischer Kraft gebricht es unserer Zeit im allgemeinen keineswegs. Wohl aber hat diese Kraft in der katholischen Literatur lange kein reges Leben entfaltet. Alle richtigen, durch eine gesunde Philosophie überlieferten Begriffe von Kunst und Dichtung konnten frei lich dort nichts bedeuten, wo es an der Fähigkeit gebrach, sie in einer dem gegenwärtigen Stand unseres Kunstgefühles entsprechenden Weise auch schöpferisch zu realisieren. Dem allgemeinen Literaturbetrieb außer halb der katholischen Welt mangelte zwar das rege Leben nicht, wohl aber die richtige Orientierung. Allein die Hoffnung, mit einer wenn auch vorerst irregeleiteten, immerhin in entschiedener Vorwärtsbewegung be findlichen Kraft ans rechte Ziel zu kommen, ist immer noch größer, als wenn man das schöne Ziel zwar im Auge hat, aber dazu verurteilt scheint, in kraftloser Untätigkeit sich fortwährend auf demselben Fleck herumzudrehen.