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Beilage zum Großenhainer Anterhakungs- und Arycigeblatt. — . X — — — — — Nr. 28. Dienstag, de» 7. März 1882. 7». Jahrgang. verschlungene Bahnen. Zeitroman von Ferdinand Kießling. (16. Fortsetzung.) XlV. In der Residenz war Jahrmarkt. Schaaren von Landleuten strömten von allen Seiten in die Stadt und drängten sich durch die Budenreihen. Hier stand ein Trupp Musikanten, lustige Weisen aufspielend, und überall herrschte ein ungemein buntes Treiben. Vor einer Klcidcrbude standen zwei Männer und prüften die zur Schau gestellten Anzüge. Es waren zwei Gäste aus dem lustigen Zecher, der Pastor- friedel und Matthes. ,,Sieh", sprach der Erstere, „da will ich doch gleich einen Kauf machen, denn Teufel, ein neuer Ueberzug kann meinem Corpus nichts schaden." „Recht so, Friedel", entgegnete der Andere. „Was kostet der Rock?" fragte Friedel den Verkäufer. „O, den lasse ich Ihnen billig — es ist ein feiner Stoff und treffliche Arbeit, ganz modern —" „Nun, was kostet er?" „Na, Sie sollen ihn für den Selbstkostenpreis haben, geben Sie zehn Thaler." Friedel feilschte nicht lange. Er besah sich den Rock noch einmal, probirte ihn gleich dort an und sprach: „ Nun, Matthes, paßt er?" „Donnerwetter, man glaubt, er sei Dir angemessen." Auch der Verkäufer erging sich in langen Worten über das treffliche Paffen, und Friedel langte in die Tasche und warf gleichzeitig den geforderten Preis auf den Verkaufsstand. „Werde ihn gleich auf dem Leibe behalten", sprach er, „was meinst Du, Matthes?" „Ganz gut! — Doch jetzt komm, mir ist die Kehle ver dammt trocken geworden, laß uns Eins trinken." „Soll ich Ihnen den alten Rock einschlagen?" fragte der Verkäufer. „Wäre schade ums Papier", lachte abgehend Friedel, „werft ihn in die Lumpen." Ein lustiges Lied summend, schritten Beide durch die Buden- reihen einer nahen Restauration zu. Sie hatten nicht bemerkt, daß zwei Männer sie scharf beobachteten und ihnen scheinbar ganz zufällig folgten. Während der eine dieser Männer den beiden Kumpanen nachging, trat der andere zu dem Verkäufer. „Mein Herr", sprach er, ein Zeichen aus der Tasche ziehend, „ich bin Polizcibcamtcr, wollen Sie mir den Rock zeigen, den der Käufer hier zurückgelaffen hat?" „Gewiß", sagte erschrocken der Händler, „hier ist er." Der Beamte sah sich den Rock an. „Er ist nichts werth", sprach der Verkäufer. „Für mich doch!" entgegnete mit siegesgewissem Lächeln der Beamte. „Ich werde den Rock mitnchmcn und bitte Sie, sich behufs etwaiger Ansprüche morgen im Polizeiamte beim Herrn Commissar zu melden." Nasch eilte er mit dem sorgfältig eingcpackten Rocke seinem Begleiter nach, und bald sah er diesen an der Thür des Hauses, in welches die beiden Verfolgten cingekehrt waren. „College", flüsterte er diesem zu, „will's Gott, so sind wir den Schurken auf der Spur und der Preis ist unser!" „Wie", rief der Andere, „wär's möglich?" „Ich hoffe cs! Laß sie nicht aus den Augen, ich hole eine Patrouille und bin bald wieder hier." Rasch war er mit seinem Packet in der Menge verschwunden. Noch war keine Viertelstunde verstrichen, so gewahrte der Wachende den Polizei - Transportwagen und vier Gensdarmen, wenige Augenblicke darauf hielt der Wagen vor der Thür des Hauses. „Sind sie noch hier?" fragte der Erstere. „Gewiß!" „Nun denn, Achtung, meine Herren! Sie wissen, cs sind gefährliche Burschen." Friedel und Matthes saßen noch lustig und guter Dinge beim vollen Glase, als ein Geheimpolizist und ein Gensdarm auf sie zuschritten. „Meine Herren, Sie sind Beide Arrestanten!" sprach ruhig der Geheimpolizist, indem er die Hand auf die Schulter Friedels legte, während der Gensdarm dasselbe mit Matthes that. „Oho!" riefen Beide fast zugleich, „darf man denn wissen weshalb?" „Wir haben nur den Auftrag, Sie an Polizcistellc zu sistiren, das Uebrige geht uns nichts an. —Bitte, vermeiden Sie alles unnöthigc Aufsehen und folgen Sie uns." Dem Geheimpolizisten entging cs nicht, wie Friedel seinem Gefährten einen vielsagenden Blick zuwarf, er gab deshalb seinem an der Thür stehenden College» einen Wink und bald darauf erschienen noch zwei Gensdarmen, welche die Arrestanten an den Armen erfaßten und aus dem Zimmer nach dem hier harrenden Transportwagen führten. Beide wurden in dem aus drei Abtheilungen bestehenden Wagen getrennt, so, daß Friedel in der vorderen, Matthes dagegen in der Hinteren Placirt wurde, während der Geheimpolizist, etwaige Derstän- digungsvcrsuche zu vermeiden, in der mittleren Abthcilung selbst Platz nahm. Bald darauf rollte der Wagen, von der gaffenden Menge angestaunt, dem Polizeiamtc zu. Eine Stunde darauf saßen Beide mit Handschellen versehen und von ein ander getrennt in dem Gefängnisse. Die Arrctur war ohne sonderliches Aufsehen von Statten gegangen, und da in dem bewegten Locale meist Jahrmarkts, besucher verkehrten und auch der Wirth die beiden Verhafteten nicht kannte, so glaubte man, daß diese ein Paar Markt- und Taschendiebe seien. Auch im „lustigen Zecher" hatte man nichts erfahren, und als am Abend Friedel und Matthes aus blieben, nahm man dort an, daß sie sich auf dem Markte einen Rausch angetrunken, oder in andere lustige Gesellschaft gerathen seien. Schon am nächsten Morgen wurden die Angeklagten ein zeln vorgeführt, und der Polizei-Präsident wohnte dem ersten Verhöre selbst bei. Zuerst kam Friedel an die Reihe. Nachdem die General- fragen nach Namen, Stand und Alter rc. vorgelegt und be antwortet worden waren, begann der Präsident: „Sie sind verdächtig, an den Raubanfällen und Einbruchsdiebstählcn, die in der letzten Zcit die Residenz beunruhigt, Theil genommen zu haben." „Ich kann's leider nicht ändern, wenn Sie mich, für diesen Verbrecher verdächtig, cinsperren lassen; indessen ich weiß von begangenen Verbrechen gar nichts." „Sie haben gestern aus dem Markte einen neuen Nock ge kauft, wie sind Sie in den Besitz des Geldes gelangt?" „Hab' mir's erspart!" antwortete er frech. „Sie hatten aber seit langer Zeit keine Arbeit, wie tonnten Sie sich da so viel Geld ersparen, denn bei Ihrer Verhaftung fanden sich weitere sechszehn Thaler bei Ihnen vor." „Das Geld habe ich schon seit langer Zeit gehabt; die Summe war erst größer, und ich habe nach und nach davon zugcsetzt." „Sie haben bei dem Kaufe des neuen Rockes Ihren alten dort gelassen, warum?" „Weil ich ihn nicht mehr brauche." „An Ihrem Rocke fehlt ein Knopf", fuhr der Präsident ihn scharf fixirend fort, „und auch ein Stück des Stoffes ist an dieser Seite herausgeriffen?" „Das kann sein." Bei der Local-Besichtigung in dem Hause des beraubten Aron wurde nun merkwürdiger Weise ein Knopf mit einem Stück Zeug gefunden, der genau an jene Stelle Ihres Rockes paßt." Friedel stutzte einen Augenblick. Dem Präsidenten entging es nicht, daß die Farbe seines Gesichtes plötzlich wechselte, und auch seine Stimme war merk lich unsicher, als er entgegnete: „Das wird wohl ein Jrrthum sein." „Das auszuklären, ist Sache des Gerichts, dem Sie morgen übergeben werden. Ich bemerke nur, daß das Leugnen Ihnen wenig helfen wird, und daß Sie dadurch Ihre Strafe nur erhöhen werden." Friedel jedoch blieb beim Leugnen. Der Präsident legte ihm vergebens noch einige Fragen vor, und da alle Versuche, ihn zum Geftändniß zu bringen, umsonst waren, wurde er in sein Gefängniß zurückgcführt. Bald darauf erschien Matthes bei dem Präsidenten. Wie im Stehlen, so war er auch im Lügen der ebenbürtige Genosse Friedens, und am nächsten Morgen wurden Beide nach dem Gerichtsgefängnisse transportirt. Auch in den „lustigen Zecher" war die Kunde von der Verhaftung Friedel's und Matthes' endlich gedrungen und hatte dort begreiflicher Weise nicht geringe Aufregung hervor- gcrufen. Keinem wollte das Trinken recht munden, und der Wirth ging mürrisch, die Hände in den Taschen, im Zimmer auf und ab. „Na, Wirth, schau nur nicht so grämlich drein", nahm Ehlers das Wort, „Friedel und Matthes sind vielleicht nur wegen Trunkenheit und Scandalmachen in Nummer Sicher." „Ich glaub's nicht", entgegnete der Wirth. „Eher ist's möglich, daß Beide recht unsinnig mit dem Gelde um sich ge worfen, und daß dies den Spürhunden ausgefallen ist." „Na, und wenn auch", rief Brand dazwischen, „die Beiden lassen sich lieber die Zungen ausreißen, als daß sie uns verrathen." „Mag das bei Friedel der Fall sein, — allein dem Mat thes traue ich keinen Pfifferling zu." „Oho!" brummte Brand, „da wäre es wohl am Gcra- thensten, zu verduften, weil es noch Zeit ist?" „Du bist gerad' so ein Kerl wie Matthes", rief der Wirth mit drohendem Blick, „und ich bin überzeugt, hätten die Spürhunde Dich in die Hände bekommen, so wäre unser Ncs in den nächsten Tagen ausgenommen." „Das wagst Du mir zu sagen, schurkisches Vollmonds gesicht?" schrie wüthcnd Brand, indem er aufsprang und den Wirth bei der Gurgel faßte. Dieser, Brand an Kräften weit überlegen, warf den An greifer mit einem derben Fluche auf den Fußboden, und da einige der Anwesenden für den Wirth, andere für Brand Partei nahmen, entstand eine Scene so widerlicher Art, daß cs selbst einigen der rohen Burschen zu arg wurde. „Wart', Sckurke, Dir will ich's anstreichen!" rief der Wirth, nachdem die Ruhe wieder hcrgcstellt war, „laß mich nur erst die Hausthür schließen, dann sprechen wir weiter." Er schritt nach der Treppe. Doch kaum hatte er die Jallthür geöffnet, so prallte er zurück mit dem Rufe: „Tod und Teufel! Wir sind verrathen!" Im Augenblicke waren alle Lichter verlöscht und gleich Katzen schlichen die Genossen dem rettenden Fenster zu. Sie drückten auf den Knopf, gaben das Zeichen — allein das rettende Bret erschien nicht aus dem Nachbarhause. „Laßt mich, ich schwimme hinüber!" flüsterte Ehlers, und sprang mit einem Muthe, der einer besseren Sache würdig gewesen wäre, in die Kloake. Aber kaum hatte er sich mit ungeheurer Anstrengung bis zur Mitte hindurch gearbeitet, als ihm von drüben ein paar Schüsse entgegen krachten. Drinnen im Gewölbe aber entspann sich ein grauenhafter Kamps zwischen den Banditen und den eindringcndcn Gcns- darmcn. — Winter war's. In Schlaf versunken standen die dunklen Fichten und ächzten unter der Last des sie bedeckenden Schnees. Ein harter Frost war feit einigen Tagen eingetreten und der Schnee ließ unter den Tritten eines bleichen, jungen Mannes, der eben den Wald passirte, kreischende Töne vernehmen. Wir kennen den Mann auf den ersten Blick wieder; es ist Eduard Grunert, der Schreiber des Justizrathes, der nach siebenmonat lichem Krankenlager aus dem Hospital der Residenz in seine Heimath zurückkehrte. Llllein sein keuchender Athem, sein schleppender Gang, das bleiche, fahle Gesicht vcrriethen nur zu deutlich, daß die Gesundheit noch nicht zurückgekehrt war. Der Tag begann sich zu neigen. Hin und wieder tauchten glitzernde Sterne am Himmel auf und spornten Eduard zur Eile an. Eine Unglücksahnung, die er sich nicht zu deuten vermochte, bemächtigte sich seiner, als er das Häuschen vor sich liegen sah. Leise öffnete er die Thür. Wieder wie damals saß Marie am Tischchen bei der Lampe und nähte. Sie richtete beim Knarren der Thüre den Kopf in die Höhe, und kaum hatte sie den Bruder erkannt, so flog sie laut weinend an dessen Brust. Nachdem der erste Rausch des Wiedersehens vorüber war, warf Eduard einen Blick auf das Zimmer. — Ach wie öde und traurig sah es darinnen aus! Die besseren Möbel waren verschwunden und nur das Allernothdürftigste war übrig geblieben. Eduard's Herz war so namenlos schwer. Und als er in das bleiche, vergrämte Gesicht, in die trüben, überwachten Augen seiner Schwester Marie schaute, so brach auch aus seinen Augen ein Thränen- strom hervor. „Ja, weine nur, armer Bruder", sprach bewegt Marie, „wohl Dir, wenn Du noch Thränen hast! — Die meinen, ach, sie sind seit langer Zeit versiegt", fügte sie mit einem ticfcn Seufzer hinzu. „Wo ist Louise?" fragte Eduard mit halb erstickter Stimme. Marie deutete schweigend nach dem Bette. „Ist sie krank?" fragte er weiter. „Bruder, ich wollte Dich nicht beunruhigen", entgegnete sie; „seit Deiner Krankheit hat sich bei uns eine gar lange und traurige Geschichte in unserem Hause abgespielt." „Mein Gott, Marie, was ist geschehen?" „Der Assessor —" „Der Assessor?" wiederholte erregt Eduard, „gut daß Du mich an den erinnerst, ich hab' Dir von ihm eine Neuig keit mitzutheilen." „Was ist's, Eduard?" „Als ich heute Morgen aus dem Krankenhause entlassen wurde, kehrte ich in einem Gasthofe ein, um bis zum Ab gänge des Bahnzuges dort zu warten. Zufällig fiel mein Blick auf die dort liegenden Zeitungen, ich durchflog sie und fand — die Verlobungsanzeigen zweier Schurken." Er zog ein Zeitungsblatt aus seiner Tasche, entfaltete es und las: „Baron Manuel von Jllnow und Gräfin Aurelie von Dorn berg empfehlen sich als Verlobte." „Ich habe den Baron auf seinen Wegen in das Schloß nur einige Male flüchtig gesehen und deshalb wenig Interesse für ihn", entgegnete «Marie. „Desto mehr wikd die zweite für Dich haben." Er las weiter: „Franz Kersten, Assessor, und Agnes von Hoyer—" „Heiliger Gott, Bruder, schone die arme Schwester!" rief Marie nach dem Bette deutend aus. Ein schwacher Schrei, dem ein leises Wimmern folgte, drang aus dem Bette hervor, und Eduard trat, den dürftigen Kattunvorhang bei Seite schiebend, heran. „O, mein Gott! — Ein Kind!" rief er, die Hände vor das Gesicht pressend. Fast hätte man in dem fahlen, ein gefallenen Gesichte die sonst so schöne, blühende Schwester nicht wieder erkannt. „O, meine Ahnung!" rief er nach einer Pause, „sie ist also doch in ihrem ganzen furchtbaren Umfange eingetroffen!" „Bruder", flüsterte Louise mit todcsmattcr Stimme, „ver damme die Gefallene nicht! — Gott hat — gerichtet, ich bin für meine Sünden hart — ach so namenlos hart bestraft." Eduard preßte die Lippen fest aufeinander, dann reichte er der Kranken mit abgewandtcm Gesichte die Hand und trat vom Bette weg. Schweigend, den Kopf auf die Hand gestützt, nahm er am Tische Platz, und Marie griff wieder zu ihrer Arbeit. Nach einer Pause fragte Eduard tonlos: „Wie ist dies Alles gekommen?" „Der Assessor", begann Maric, „ hat Dich, wie es schien, nur deshalb im Krankenhausc der Stadt untergebracht, um desto ungestörter mit Louise verkehren zu können. Denn kaum warst Du fort, so wurden die Ausgänge Louisens immer häufiger, und alle meine Bitten und Vorstellungen, dieses Ver- hältniß aufzugeben, waren erfolglos. Louise glaubte dem Elenden mehr als mir. Hatte er ihr doch die Ehe so fest versprochen und Louise traute leider seinen Schwüren. — Ich selbst fing an, an die Aufrichtigkeit seiner Gesinnungen zu glauben, als mir Louise einst einen Brief von ihm zeigte, in welchem er sie um ein Rendezvous bat und ihr mit den hei ligsten Ausdrücken bcthcuerte, daß Sie seine Gattin werden sollte." „Was ist solch' einem Schurken heilig?" warf Eduard ein. „O, Gott, ob er sich denn nicht der Sünde fürchtet?" „Der?" höhnte Eduard. „Nun, Ihr habt doch den Brief aufbcwahrt?" „Ja." „Gieb ihn her." Marie öffnete ein schmuckloses Nähkästchen, nahm einen Brief daraus und überreichte ihn dem Bruder. Eduard las ihn durch. Wieder zeigten sich die krankhaften rothcn Flecken auf seinen bleichen Wangen. „Nun denn, Bube!" rief er, nachdem er geendet, „das sollst Du mir büßen." „Laß das", bat Marie, „Du stehst in seinem Brode!" „Von heute ab nicht mehr. — Doch erzähle weiter." „Louise war leider zu bereitwillig, den Versicherungen der Assessors zu glauben; aber bald kehrte sie mit verweinten Augen zurück und wich meinen besorgten Fragen aus. Ach, es nahm ein Ende mit Schrecken. Das Verhältniß hatte Folgen, und als sie es ihm unter Thränen gestand, sagte er