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Nr. 268 (R. 168). Leipzig, Dienstag den 4 September 1928, 85. Jahrgang. Redaktioneller Teil. „Schundheftreihen" und Prüfverfahren. Von Ludwig Carridre, Berlin, Dem Entwurf eines Gesetzes zur Bewahrung der Ju gend vor Schund- und Schmutzschriften war als Anlage eine Liste von Schundheftreihen beigegeben, --die in Deutschland unter den Schulkindern verbreitet sind-. Da der Gesetzgeber selbst den Begriff »Schund- und Schmutzschriften- zu definieren vermeidet, so läßt es sich begreifen, wenn auch der Begriff der Schundheft- reihe, der im Gesetz und in der Ausführungsverordnung nicht erwähnt ist, eine Abgrenzung nirgends gefunden hat. Tatsächlich nennt diese Liste gleich unter den ersten Num mern sowohl Kolportageromane, die also nur eine einzige, in Lieferungen erscheinende Schrift eines Verfassers darstellen, wie Sammlungen, die unter irgendeinem, oft ganz belanglosen Obertitel verschiedene in sich abgeschlossene Schriften verschiedener Verfasser umgreifen, wie letztens die eigentlichen Serien, in denen voneinander ebenfalls unab hängige Hefte oder Bändchen durch einen gemeinsamen Ober titel, meist einen gemeinsamen Helden und, falls überhaupt einer genannt ist, durch denselben Verfasser zusammengehalten werden. Um die Unterschiede bei dieser Aufteilung des Begriffs der Schundheftreihe deutlicher zu zeigen, seien Beispiele aus der guten Literatur gewählt. Dabei wird sich ergeben, daß der Be griff der »Schrift- selbst ebenfalls nicht so eindeutig ist, wie es zunächst den Anschein hat. Das Gesetz spricht allgemein von »Schriften» oder »einer Schrift- und hebt als Unterabteilung nur die »periodischen Druckschriften- hervor?) Das Lieferungswerk ist eine Einheit, die aus rein technischen Gründen (sukzessive Beanspruchung des oder der Ver fasser und der maschinellen Einrichtungen, Handlichkeit der Bände, Rücksicht auf die Kaufkraft des Abnehmers) nicht auf einmal, sondern in einzelnen Teilen und in Abständen angebo- ten wird. So werden z, B, die jetzt neu erscheinenden Konversa tionslexika von Meyer und Brockhaus Band für Band nach Er scheinen geliefert. Auch Francs »Das Leben der Pflanze- ist vor einigen Jahren als Lieferungswerk erschienen; hier ergaben eine Reihe von Lieferungen den Band, eine Reihe von Bänden das Werk, Die einzelne Lieferung ist nicht als Schrift im Sinne des Sprachgebrauchs anzusehen; denn sie ist ein aus rein äußerlichen Gründen abgetrennter Teil des Ganzen; Anfang und Ende sind mehr oder weniger willkürlich bestimmt; der ein zelne Teil ist, losgelöst vom Ganzen, so gut wie wertlos; erst mit dem Erscheinen der letzten Lieferung ist das Werk ein ein heitliches Ganzes geworden. Dasselbe gilt für den K o l p o r t a g e r o man. Die ein zelnen Lieferungen sind keine Schriften nach dem Sprachgebrauch, Läßt man, wie das manchmal geschieht und wozu mitgelieferte Titelblätter am Schluß des Werkes auch einladen, den Kolpor tageroman binden, so treten die einzelnen Lieferungen in keiner Weise mehr selbständig hervor. Erst der Gesamtroman ist eine Schrift im Sinne des Sprachgebrauchs, (Gleichwohl ist es denk bar, daß eine Prüfkammer nur einzelne Hefte eines Liefsrungs- romanes in die Liste der Schund- und Schmutzschriften auf nimmt. Praktisch ist ein solcher Fall bisher nicht aufgetreten,) *> Vgl, hierzu Hellwtg' s Kommentar, Anm. 10 ff. Mehrfach haben den Prüfstellen Anträge Vorgelegen, noch nicht vollständig erschienene Kolportageromane in die Liste auf zunehmen, Die Ablehnungen dieser Anträge waren aber durch materiell-rechtliche Gründe bedingt, nicht durch den der Unvoll ständigkeit, Es ist dabei die Ansicht vertreten worden, die Auf nahme des Anfangteils eines Lieferungswerkes in die Liste sei besser zu vermeiden und die Sache bis zum Vorliegen der letzten Lieferung zu vertagen. Demgegenüber steht eine ebenso berechtigte andere Auffas sung, Sie argumentiert folgendermaßen: Bringt ein Verlag einen Lieserungsroman heraus, dessen erste Hefte bereits Schund oder Schmutzcharakter tragen, so würde es dem Sinn und Zweck des Gesetzes zuwider lausen, wenn die Hefte bis zum Erscheinen der letzten Lieferung, die den Roman vollständig macht, also auf 1—2 Jahre, der Wirkung des Gesetzes entzogen sind. Wenn eine Prüfkammer den Schund- und Schmutzcharakter der ersten Liefe rungen bejaht, so muß sie auch die Möglichkeit haben, diese Liefe rungen (etwa 1—6 oder 1—30) in die Liste der Schund- und Schmutzschriften aufzunehmen'). Wie immer aber die Praxis sich zu diesen Fragen stellen wird, man darf fordern, daß ein vollständig erschienener Kol portageroman nur als Ganzes und ein im Erscheinen begriffener in allen bis zum Anträge vorliegenden Heften geprüft wird. So wenig wie durch die Aufteilung in Lieferungen verliert eine Schrift ihre Einheit dadurch, daß sie in mehrere Bände zerfällt. Eine Ausnahme mag nur in jenen Fällen vor liegen, wo die einzelnen Bände eines Zyklus in einer gewissen Unabhängigkeit voneinander erschienen sind (Freytag, Dahn, Undset, Galsworthy u, a,); man wird dann allerdings schwanken und sowohl jeden der selbständigen Bände als auch das Ge samtwerk »eine Schrift« nennen können. Das gilt im besonderen Maße von jenen Sammelwerken, bei denen nur ein gemeinsames Thema und ein gemeinsamer Herausgeber die einzelnen Bände zusammenhalten, deren Sonderthemen von verschiedenen Ver fassern bearbeitet worden sind (z, B, »Die Kultur der Gegen wart-); auch hier wird man sicherlich jeden einzelnen Band und ebensogut das Gesamtwert als »eine Schrift- ansehen können. Ein anderes Beispiel ist die »Heilige Schrift-, zerfallend in die selbständigen Schriften »Altes und Neues Testament-, deren jede wieder eine Anzahl von einzelnen Schriften umfaßt. War oben die Möglichkeit erwähnt, daß eine Prüfkammer einzelne Hefte eines Lieferungsromanes in die Liste aufnimmt, jo ist um so mehr damit zu rechnen, daß sie einen vom Verfasser so deutlich abgegrenzten Teil eines Werkes wie einen Band gegebenenfalls als Schrift anfieht und in die Liste aufnimmt. Sie muß dieses Recht auch deshalb haben, weil sie sonst entweder in Rücksicht auf die andern Bände diese Maßnahme unterlassen oder die andern Bände mit auf die Liste setzen müßte. *) Der Vollständigkeit halber sei bemerkt, baß auch die Auffassung vertreten wird, die Prüfkammer habe in solchem Falle sogar das Recht, gleich das ganze Werk in die Liste auszunehmen, Hiergegen ist rechtlich elnzuwenden, daß ein Antrag nicht mehr Material umfassen kann, als den Beisitzern zur Prüfung vorgelegt wird, und daß wieder um die Entscheidung nicht über den Antrag htnausgehen darf. Ein Verbot »im Voraus» würde sachlich an die reaktionäre.Zensur er innern, wie sie um 1830 gegen gewisse Verleger oder Schriftsteller ausgeübt Ivyrde. 881