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251, 28, Oktober 1830. Redaktioneller Teil. Börsenblatt f. d.Dtschn. Buchhandel. grüßt den alten Warthestrom, der sich da weit hinten aus dem grünen Gelände an die Stadt heranschlängelt. — Auch für uns stand ein Zug im Bahnhof bereit, der uns aus Landsberg ent führte. Wir schieden jedoch nicht, ohne unfern freundlichen Gast gebern, den Kollegen Bellach, Ogoleit, Scharf und Schmidt herz lich zu danken. Und dieser Dank sei an dieser Stelle noch ein mal für alle Teilnehmer zum Ausdruck gebracht, denen der Aufenthalt in Landsberg eine bleibende Erinnerung sein wird. Kre. Die Volksbücherei der Gegenwart.*) Von Walter Hofmann, Leipzig. Wenn ich jetzt über die Volksbücherei der Gegenwart sprechen soll, so sehe ich im Geiste vor mir nicht nur manches gleichgültige, sondern auch manches ablehnende Gesicht. Das muß ich als Ver treter der Volksbücherei zwar bedauern, aber ich kann es verstehen. Die volkstümliche Bücherei der Gegenwart ist immer noch mit dem Erbe der volkstümlichen Bücherei vergangener Jahrzehnte belastet. Was war denn die Volksbücherei, so wie unsere Väter und Groß väter sie kannten? Wer sie aufsuchte, durfte nicht dort suchen, wo die Gebäude unserer anderen öffentlichen Bildungseinrichtungen standen, wo die stattlichen Häuser der Schulen aller Stufen, wo die Paläste der wissenschaftlichen Bibliotheken, der Museen, der Theater standen. Irgendwo in einem Nebenraume, vielleicht in einem Hof raume eines heruntergewirtschafteten Wohn- oder Geschäftshauses war die Volksbücherei untergebracht. Der Raum selbst nur allzu oft: trüb, unfreundlich, schlecht gelüftet. Das Mobiliar in diesen Räumen: Tische, Stühle, Bänke, die an anderen Stellen als aus gedient beiseite gestellt waren. Und vor allem die Bücher selbst! Derjenige, der etwas auf Reinlichkeit und Hygiene hielt, konnte diese zerlcsenen, schmierigen, ttbelduftendcn Scharteken nur mit der Zange anfassen. Das waren die Volksbüchereien: ausgesprochenermaßen Anstalten für die »kleinen Leute«, so wie man sich damals die kleinen Leute und ihre Bedürfnisse dachte. Dabei war es aber keineswegs so, daß diese Büchereien in einer unscheinbaren Schale nun einen kostbaren geistigen Kern umfaßten. Ganz im Gegenteil: dem dürf tigen Äußeren entsprach ein ebenso dürftiges Innere. Diese Volks büchereien waren in zahllosen Fällen geistige Gängelungs- und Be- vormundungsanstaltcn. Manchmal wurde das bei der Gründung ausgesprochen, manchmal wurde es nicht ausgesprochen, und wo man solche Tendenzen nicht hegte, da waren die Volksbüchereien mit ihren Büchern doch kaum mehr als Brosamen, die von der Reichen Tische fielen. Und alles das wirkte schließlich dahin, daß diese Volks büchereien vom Volke gemieden wurden. Es waren die Kinder, alte Frauen und überhaupt die Ruheständler des Lebens, die zu den bevorzugten Gästen dieser Volksbildungsanstalten zählten. Und wenn wir nun wissen, daß es Gebilde dieser Art auch heute noch gibt, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn Volksmeinung und zum Teil auch öffentliche Meinung von der Volksbücherei vielerorts nichts wissen wollen. Aber wenden wir uns von diesen Gespenstern der Vergangen heit weg zu der Volksbücherei von heute, so wie sie sein sollte und wie sie in vielen Fällen tatsächlich auch schon ist. Begleiten Sie mich, meine Zuhörer, zu diesem Zwecke auf einem Gang durch die Volksbüchereien der deutschen Bücherstadt, durch die Städtischen Bücherhallcn zu Leipzig. Schon das äußere Auftreten dieser »Volks büchereien« wird Sie überraschen. Unsere Nordbüchcrei hat inne das stattliche Dienstwohngebäude, welches das Reich in den Jahren 1910—12 für den kommandierenden General des XIX. Armeekorps baute. Für unsere Westbücherei ist im vergangenen Jahre ein neues schönes Gebäude errichtet worden mit Vortragsräumen, Kinderlese zimmer, Zeitungslesezimmer, Bücherlesezimmer, ausgedehntem Aus leihraum, — das Ganze ein Schmuckstück und ein Anziehungspunkt für den ganzen Stadtteil! Für unsere Südbücherei wird ein ähn liches Gebäude eben jetzt fertig und unsere Ostbücherei ist in einem älteren kommunalen Gebäude von Anfang an sehr würdig unter gebracht gewesen. In allen vier Hauptstadtteilen erhebt sich das eigene stattliche und wohlgepflegte Gebäude der Volksbücherei, schon *) In Leipzig ist vor einigen Tagen wieder eine der von Walter Hofmann mustergültig eingerichteten Bücherhallen eröffnet worden. Man wird von diesem architektonischen wie organisatorischen Meister werk in Zukunft noch hören. Heute bringen wir dem Buchhandel die Rede, die Direktor Walter Hofmann am 11. Oktober d. I. vor dem Leipziger Sender hielt. Sie verdient wegen der darin betonten Grundsätze die Beachtung des Buchhandels ganz besonders. damit von der Bedeutung der Sache sprechend, Zeugnis dafiir ab- lcgend, daß die Volksbücherei jetzt eingcrciht ist in die Reihe der anderen großen öffentlichen Bildungsinstitute der modernen Ge meinde. Noch aufschlußreicher aber ist es, das reiche und mannigfaltige Leben zu beobachten, welches sich in solchen Büchereien abspielt. Schon die Lescrlistcn sind lehrreich! Unsere Leipziger Biicherhallen werden im laufenden Jahre von etwa 25—30 000 verschiedenen Men schen benutzt. Das ist soviel wie die gesamte Einwohnerschaft einer deutschen Mittelstadt. Und diese vielen tausend Leser entleihen dann im Jahre einige hunderttausend Bände, und diese Hunderltausende von entliehenen Bänden werden dann in einigen Millionen Lese stunden bewältigt. Selbstverständlich: die Masse allein tut es nicht! Von großer Bedeutung ist schon die Frage: wie setzt sich diese große Leserschaft zusammen? Darauf kann man mit voller Sicherheit die Antwort geben: überall dort, wo die moderne Volksbücherei wirklich sachgemäß geführt wird, sind die verschiedenen sozialen Schichten in der Leserschaft solcher Büchereien etwa in demselben Verhältnis ver treten, wie sic in der Gesamtbevölkerung der Stadt vertreten sind. Das heißt aber nichts anderes, als daß auch die verschiedenen Bil dungsschichten, die verschiedenen politischen und Weltanschauungs gruppen sich zu dieser Volksbücherei bekennen. Die Leipziger Büchcr- hallen, um immer wieder ein konkre.es Beispiel zu nennen, stehen in Arbeitsgemeinschaft mit den verschiedensten kulturellen Einrich tungen und Instanzen, mit den Museen, mit den Berufsschulen, mit der Lehrerschaft der Volksschule, ebenso mit der Lehrerschaft der höheren Schulen. Denn die Schüler dieser Schulen mit ihrem mannig faltigen Buchbedars bilden eben auch einen nicht unbeträchtlichen Teil der Gesamtleserschaft. Aber ebenso erblickt die organisierte Arbeiterschaft in der öffentlichen Bücherei ihre eigene Sache. So arbeiten z. B. in Leipzig die Gewerkschaften ganz planmäßig mit den Städtischen Bücherhallen zusammen und weisen ihre Angehörigen ohne Unterschied den Städtischen Bücherhallcn zu. Und so stehen nun am Schalter dieser Volksbikchereien die Jugendlichen neben den Erwachsenen, die Männer neben den Frauen, der ungelernte Arbeiter neben dein Arzt oder dem Lehrer, dem Juristen. Es ist ein breites und mächtiges und in sich reich gegliedertes Volksleben, welches nun durch die weiten Hellen Räume eiuer solchen Volksbücherei flutet, die damit zum ersten Male den Namen Volksbücherei in einem hohen und bedeutenden Sinne tragen darf. Vielleicht wird nun der eine oder der andere unter Ihnen ver wundert den Kopf schütteln. Es wird doch soviel in Deutschland von Buchnot gesprochen! Es wird davon gesprochen, daß das Inter esse am Buch zurückgegangen sei, daß es durch Politik, Sport, Technik, Kino und Rundfunk immer mehr verdrängt werde. Man spricht von einer Buchkrise im Zusammenhang mit einer Kulturkrise. Ge wiß: — es gibt so etwas wie eine Buchkrise. Aber doch nicht so, wie es vielfach gemeint wird, und nicht in dem Umfang, wie man sich diese Krise vorstellt. Der Wille zum Buch ist da! Ja, der Zwang zum Buche ist in unserer modernen und komplizierten Großgcsell- schaft heute sicher viel größer als in früheren Perioden unseres Kulturlebens. Die äußeren Notwendigkeiten der Verständigung und des Austausches, der Information und der Weiterbildung sind größer, und die innere Notwendigkeit der Lebensergänzung und Bereicherung ist in der atomisierten und mechanisierten Zeit, in der wir leben, gleichfalls größer. Und dementsprechend ist auch die Buchproduktion heute unendlich viel größer als in früheren Perioden unseres Kultur leben. Aber es geht uns mit dem Buch, wie es uns mit den- neuen Verkehrsmitteln und der ungeheuer gestiegenen Verkchrsnotwendig- keit geht. Der Vcrkehrswille ist da, und das neue Verkehrsmittel, das Automobil, ist auch da, — aber dort, wo das Verkehrsbedürfnis am stärksten ist und wo die Verkehrsmittel am zahlreichsten sind, gerade da droht der Verkehr zu erliegen, weil die neuen Ver kehrswege nicht da sind! Auf den alten Verkehrswegen unserer Welt- und Großstädte verstopft sich bei der Überfülle der Verkehrsmittel der Verkehr derart, daß der, der eilig von einem Stadtteil zum andern will, schon fast gut daran tut, zu Fuß zu gehen. Und ähnlich ist es mit dem Buch, diesem Verkehrsmittel, auf dem die Gedankenfracht zwischen den Menschen hin und her ge tragen werden soll. Für die so enorm gewachsene Bllcherproduktion und für den in Wirklichkeit so sehr gestiegenen Buchbedarf bedürfen wir neuer Verkehrswege zwischen der Produktion und den Konsu menten. Und einer dieser neuen Verkehrswege ist eben die moderne Volksbücherei. Damit ist freilich auch etwas sehr Wichtiges gesagt über die geistige Haltung dieser Volksbücherei, die bezeichnenderweise heute vielfach auch den Namen öffentliche Bücherei führt. Ein allgemeines Verkehrsmittel, aus den Kräften der Allgemeinheit und für die Allgemeinheit geschaffen, hat keine Vorliebe oder Abneigung gegen bestimmte Güter, die in den Verkehr gebracht werden. Ein solches 1031