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Ann nickte und schnitt eine kleine Grimasse. „Ich möchte Ihnen gern einmal den Garten zeigen." Timm marschierte gehorsam hinter dem Mädchen her. Vielleicht war Ursel schon längere Zeit verreist. Sicher war es für ein Mädchen ans der Stadt nicht leicht, sich hier einzuleben. „Hier sollen Erdbeeren hin, und hier das Gemüse", erklärte Ann. Sie zeigte mit der Hand hierhin und dort hin und sah Timm an, ob er auch zuhörte. Der Rasen hinter dem Haus war abgesteckt. An einer Stelle waren die Schollen abgebrochen, der Spaten steckte noch im Boden. „Ich dachte, Graben wäre leichter", meinte Ann. „Nun liegt das da so herum, aber ich werde es bestimmt noch lernen." Timm stützt sich wie zufällig auf den Spaten, plötzlich bewegten sich seine Arme von selbst, und Stich um Stich warf er den Boden um. Seine heftigen, zornigen Be wegungen gingen allmählich in ein gleichmäßiges Auf und Nieder über. Der schwarze Streifen Erde wuchs neben dem Nasen in die Länge und Breite. Timm wühlte sich in den Boden hinein und wurde ruhiger. Ursel war nicht da, aber das hier war seine Wiese. Dieser Streifen sollte einmal ein Garten werden. Ann blieb mit verschränkten Armen stehen. Sie wollte eigentlich etwas sagen. Das ist doch nicht nötig. Das machen wir schon selber, oder: Deshalb sind Sie doch nicht heraufgekommen. Aber Sie empfand, daß man hier nicht Förmlichkeiten und dumme, herkömmliche Worte sagen durste. Die Herbstluft kam kühl und modrig vom Wald her über, und aus der Erde quoll der Geruch ewiger Frucht barkeit. Ein Stückchen Erde läßt uns zurückkehren und heimfinden, dachte Timm zufrieden und gelöst. Wenn die Kameraden aus dem Wald zurückkehren, wollte er hier fertig sein. Da lief ein Heller, ungeduldiger und zorniger Pfiff die Stecke entlang. Timm richtete sich auf und horchte. Der Pfiff war langgezogen und hörte nicht wieder auf. So ruft jemand in Zorn und Schmerz zugleich. „Das Tier ist wieder da", stieß Timm, immer noch horchend, heraus. „Welches Tier?" fragte das Mädchen. „Da, da, hören Sie nicht?" „Ein Zug, ein Güterzug, und die Maschine läßt viel leicht Dampf ab..." „Nein, das ist es doch nicht. Da hören Sie doch!" sagte er ungeduldig und zitternd. Die Maschine rief nach ihm, nach Hilfe und nach allen Menschen. „Gestern galt es uns... Heute kommt ein anderer dran." Seine Stimme war dunkel und erstickt. „Ich kann nicht hierbleiben, die Maschine ruft mich", riß sich Timm zusammen und stieß den Spaten fest in den Boden. „Wo wollen Sie denn hin?" fragte Ann ängstlich. Das Hämmern der Räder war verebbt und der Pfiff zwi schen den Stämmen untergegangen. Sie verstand nichts von allem. Warum rief die Maschine? Wohin wollte Timm? „Bleiben Sie doch noch hier", bat sie mit ab gewandtem Gesicht. Zum ersten Male wurde in ihr ein Gefühl wie Furcht vor der Einsamkeit wach. Im Haus hämmerten noch die Handwerker, und in der Küche arbeitete das Mädchen, aber die Stille war doch größer und wurde wie eine schwarze Last, die den Atem zu- fammenpreßt. Wie kalt und abweisend sich die roten und braunen Stämme um das Haus herumgestellt hatten. Sic bewachten das Haus und ließen vielleicht niemand hier heraus. Immer noch starrte Timm den Hang hinunter, als erwarte er jemand. Niemand kani, und nur ein Schwarm Krähen ließ sich vom Wind treiben. Der Herbst war schon im Vergehen, und wenn die Krähen so wirbelten, würde bald der Winter da sein. „Ein Stückchen Erde läßt uns zurückkehren und heim finden", sagte Timm und sah über den Hang und in den Wald hinein. „Wenn es so ist, und wenn es Ihnen hier gefällt, dann bleiben Sie doch", nahm Ann rasch noch einmal allen Atut zusammen. „Bleiben? Als ob ich hier bleiben könnte", antwortete Timm immer noch wie aus der Ferne und schon ein wenig bitter. „Ich wollte einmal hierbleiben, ich hatte mir das alles so ausgedacht..." „Und dann?" fragte das Mädchen erstaunt. „Als Junge wollte ich einmal die Wiese vom Inhalt meiner Sparbüchse kaufen. Später glaubte ich dann, daß ich auf dieser Wiese bauen müßte. Viele Jahre habe ich das geglaubt..." Timm verstummte nach diesem Bekennt nis und stieß den Atem durch die Nase. Es war ja auch wirklich zum Lachen. „Und dann sind wir Ihnen zuvorgekommen... Und Pater glaubte immer, daß überhaupt niemand den Platz kenne." Timm lachte wieder kurz und fast höhnend. „Uns..., uns... hat diese Wiese einmal gehört, meinen Eltern, den Großeltern, den Ahnen. Ach Unsinn... Ich stehe hier noch herum und erzähle Geschichten..." „Bitte, nicht so... es tut mir leid... entschuldigen Sie... daß wir nun gerade diejenigen gewesen sind..." Ann schluckte und verstummte. „Sie brauchen sich gewiß nicht zu entschuldigen". Timm richtete sich aus seiner Verbitterung auf. „Schimpfen Sie mich lieber ordentlich aus. Ich stehe hier herum und mache Ihnen das Herz mit Jugenderinne rungen schwer. Das wäre ja gelacht." Jetzt hatte sich Timm wieder ganz in der Hand. „Jemand mußte ja schließlich hier bauen, und wer zuerst kommt, mahlt oder baut zuerst. Sie dürfen mir nicht mehr böse sein, nicht wahr, und Sie sind auch nicht mehr traurig?" Ann schüttelte den Kopf: „Nein, bestimmt nicht..." „Ich habe mich durch den Pfiff der Maschine vorhin abwerfen lassen. Immer und überall denke ich dann gleich an den..." Plötzlich erschrak er selber vor seinen Gedanken. Das Haus hier lag mitten im Wald. Bis über das Blockhaus Hohlfenn hinaus zog sich -er Wald und irgendwo da zwischen schlich das Tier herum. Er durste sich nicht noch mehr ängstigen und schloß rasch mit einer nichtssagenden Handbewegung. „Man sieht selber manchmal überall Ge spenster." Am Ende der Woche wollte er bestimmt wieder her aufkommen, versprach er beim Abschied. Dankbar lächelte sie ihn an. Als er ein Stück gegangen war, kam sie plötzlich hinter ihm her, atemlos und aufgeregt. „Nein, da hinaus, genau entgegengesetzt geht doch der Weg." „Der Weg schon, aber nicht mein Weg. Vielleicht schaffe ich es bis zum Blockhaus Hohlfenn, möchte doch endlich einmal zu meinem alten Kollegen Schmidt. Und dann, glauben Sie wirklich, daß ich von damals her schon alle Wege vergessen hätte?" „Nein, ganz gewiß nicht, daran habe ich im Augen blick nicht gedacht." Ihre Brust hob und senkte sich vom raschen Lauf. Er wandte sich nach einem Stück Wegs noch einmal um, da stand sie immer noch auf derselben Stelle, und als er mit der Hand grüßte, winkte sie herüber. Dann waren nur noch die endlosen Reihen der Stämme um ihn. SechstesKapitcl. Als er den Weg erreichte, der geradeaus zum Block haus Hohlsenn führte, fielen die ersten schweren Tropfen. Timm ging schneller. Einmal hielt er mit einem Ruck an. Ein Schatten glitt fünfzig oder hundert Meter ent fernt neben ihm her. Er blieb stehen, der Schatten blieb auch stehen. Nur der Regen prasselte gegen die Zweige. Oder vielleicht waren es doch Schritte. Menschenschritte. Timm tappte ein Stück weiter. Da war der Schatten wieder. Unerbittlich schwebte ein dunkler Strich zwischen den Stämmen. Der Regen legte sich wie ein feiner schützender Schleier gegen die Sicht. Vielleicht bewegte sich ein Waldarbeiter dort drüben oder ein Förster. Oder ein Stück Wild. Vielleicht täuschte auch das Wetter. Die Stämme warfen im Wind ihre Schatten gegeneinander und der Regen war wie das Ge räusch eilig huschender Füße. (Forlleyung folgt.) „Hoffnung" Von H. Willumsen (Nachdruck verboten.) „An was denkst du, Misse?" „Ach, an nichts." „Das stimmt nicht. Ich sehe es dir an, daß dich etwas bedrückt." „Was sollte das denn sein?" „Das weiß ich eben nicht. Erzähle es mir, Misse, du wirst sehen, es erleichtert dich." „Kamma..." „Setz dich her, Kamma." „Also, was ist los?" „Was soll man tun, wenn man von einem wildfrem den Herrn angesprochen wird, den man noch niemals vorher gesehen hat?" „Ihn natürlich nicht eines Wortes würdigen. So tun, als sei er Luft." „Aber Kamma — falls es nun ein Schicksalswink ist, der mich und ihn zusammengeführt hat, ich meine, wenn das Schicksal es beschlossen hat, daß zwei Menschen, die zusammengehören, sich im Tivoli begegnen sollen, muß man dann wirklich um dummer Vorteile willen auf alles — vielleicht auf das Glück eines ganzen Lebens ver zichten?" „Also im Tivoli ist es geschehen?" „Geschehen? Nichts, nichts ist geschehen, aber es war im Tivoli, vor dem Pantomimentheater, wo wir uns sahen." „Was sagte er denn?" „Guten Abend, schönes Fräulein", sagte er. „Und diese Stimme — Kamma! —, und dann sagte er, ich sei so, wie er sich die Frau immer erträumt habe, und daß er der glücklichste Mensch sein würde, wenn er meine Be kanntschaft machen dürste und — ach, er sagte so vieles ..." „Und was sagtest du?" „Ich? Nichts! Ich wußte ja, daß man sich von einem wildfremden Mann nicht ansprechen lassen konnte — ich wandte ihm den Rücken und ging — aber seine Augen, Kamma . .. was für Augen er hatte, — und als ich zu- riickkehrte, um zu sehen, ob er noch da sei, da war er fort. Ich suchte überall, aber er war nirgends, und da ging ich nach Hause und weinte." „Dummes Mädel, du!" „Und nun finde ich alles um mich herum so leer, es kommt mir vor, als habe ich das Schicksal herausgefor dert, als es mir meinen Teil am Glück bringen wollte. Rein, das Leben bat für mich keinen Wert mehr." „Du wirst sehen, wenn du erst darüber geschlafen hast, dann ..." „Sprich nicht vom Schlafen, ich kann nicht mehr schla fen, ich denke nur noch an ihn — ich habe seit dem Abend kaum mehr ein Auge zugetan." „Du hast dich vollkommen richtig benommen, Misse, man soll sehr vorsichtig damit sein, auf solche Art und Weise Bekanntschaften zu machen." „Ich weiß das ja — weiß es nur zu gut — und leider war ich so vorsichtig, wie man sein soll..." „Natürlich kann es Vorkommen — alle Männer sind ja glücklicherweise nicht so —, man könnte sich ja denken, daß er wirklich das, was man mit reellen Absichten be zeichnet, gehabt hat, es könnte ja wirklich .Liebe auf den ersten Blick' gewesen sein." „Ich bin ganz sicher, daß es so war. Und nun ist alles vorbei, und ich werde ihn niemals Wiedersehen." „Aber, Misse, vielleicht..." „Aber wie denn?" „Dänemark ist ja nicht so groß, als daß man nicht einen Menschen wiederftnden könnte, wenn man den ernstlichen Versuch macht." „Alles würde ich tun." „Vielleicht könnte man ihn durch Radio suchen?" „Warum hältst du mich zum Narren?" „Verzeih mir, Misse, ich wollte dich nicht verletzen — aber cs gibt noch einen anderen Ausweg. Setze eine An zeige in die Zeitung." „Das habe ich schon versucht — am Tage darauf schon." „Und was schriebst du?" „Unter .Persönliches', Ueberschrift: .Tivoli 5.9/ und dahinter: .Der Herr, der am Sonntagabend vor dem Pan- tomimentheater eine ihm unbekannte junge Dame an sprach, wird gebeten, unter .Hoffnung' an die Redaktion dieser Zeitung zu antworten'." „Und das hatte keinerlei Erfolg?" „Im Gegenteil! — Sieh nur — ich bekam zweiund zwanzig Antworten!" (Aus dem Dänischen von Karin Reitz-Grundmann.) Ein seltsamer Traum Von Adolf Hauert. (Nachdruck verboten.) Der Schrecken über den Einsturz des Tunnels geisterte noch durch die Gespräche. Und wer irgendwie Zeit hatte, ging an der Unfallstelle vorbei. Zwar war alles abge sperrt, aber hier und dort gab es doch einmal einen Blick über das Trümmerfeld. Lange Arbeitskolonnen lösten sich ab und gingen mit dem Spaten diesem menschenfressenden Ungetüm, diesem unscheinbaren, stillrieselnden Sand zu Leibe. Achtlos treten ihn täglich unsere Füße. Heimtückisch hatte sich der Erdgeist seine Menschenopfer geholt. Am Abend saß ich mit Kameraden um den Tisch. Wir erzählten uns von diesem dämonischen Flietzsand im Tunnel, von Wanderdünen, von Sandstürmen in der Wüste. Es waren wundersame Geschichten von seltsamen Abenteuern mit der toten Erde, die doch so lebendig ist. Und dann berichtete einer: Am Morgen jenes unseligen Tages, an dem der stille Sand so viele Menschen fraß, traf ich den Arbeiter, der an dem Tunnel mitschachtete. Wir begrüßten uns, und als alte Bekannte kamen wir in ein Gespräch: „Wie geht es Ihnen, was macht die Arbeit an dem Tunnel?" — „Mir geht es schlecht, ich kann in der letzten Zett nicht mehr richtig schlafen. Am liebsten würde ich heute gar nicht zur Arbeit gehen." — „Gehen Sie doch mal zum Arzt, Sie sind krank." — „Ich weiß selbst nicht, was mit mir ist; nachts plagen mich schreckliche Träume, darüber wache ich auf und kann nicht wieder einschlafen." — „Das muß doch eine Ursache haben. Was träumen Sie denn?" — „Das ist es ja eben! Ich träume immer, ich habe den Mund voll Sand, und dann kriege ich keine Luft mehr, als müßte ich ersticken, und darüber wache ich dann auf." — Diese Worte des Arbeiters springen immer wieder in meine Gedanken hinein. Ein eigenartiger Traum! Es gibt Fälle, wo man den Träumen wie einem Wunder gegenübersteht. Im Weltkrieg habe ich da auch die sonderbarsten Dinge erlebt . . . Laß mich ausreden. Das Seltsamste kommt ja erst. Der Arbeiter gehörte dann zu jenen Unglücklichen, die ver schüttet wurden. Man fand ihn nicht gleich. Und ich mußte in den Tagen der aufregenden Bergungsarbeit oft an jenen Traum denken. War er eine Vorahnung des Todes, war er eine jener merkwürdigen Launen des Zufalls? Ist es nicht vermessen, den menschlichen Träumen über haupt irgendwelche tiefere Bedeutung zu geben? Endlich wurde auch mein Bekannter geborgen. Sie fanden ihn tief im Sand, den Mund voller Sand, erstickt im Sand. Und das sonderbarste ist, daß man in seiner Tasche einen Zettel fand, den er erst im Schacht geschrie- ben haben konnte. — Als das Unglück schon geschehen war? — Nein, das ist unmöglich! Auf diesem Zettel standen, flüchtig mit Bleistift hingeworfen, wichtige testamenta- rische Anweisungen des Toten, als hätte er das Unglück geahnt. Später bin ich wieder an der Unglücksstätte vorbei- gekommen. Sandberge türmten sich. Dazwischen gähnte der Abgrund des gewaltigen Schachtes. Holzgerüste, eiserne Träger, Balken starrten aus dem schwarzen Loch hervor wie Zähne aus dem Maul eines Ungeheuers. Ungeheuer? Gott hat dem Menschen die Erde gegeben, daß sie ihm untertan sei. Hat der Mensch die Gesetze seines Lebenskreises mißachtet, hat das Ungöttliche die tote Erde lebendig gemacht? Schaufel um Schaufel flog der Sand auf die Berge. Sie zitterten in der Sonne wie gefesselte Untiere, und der Lärm der Maschinen schreckte sie.