Volltext Seite (XML)
Kündig erscheinende Bücher. 141, 22, Juni 1910, Albert Langen Verlag für Litteratur und Kunst München Hl Demnächst erscheint in unserm Verlage das folgende wichtige Werk, das wir auf Bestellung versenden: Karl Kraus Die chinesische Mauer Aufsätze Preis geheftet 6 Mark, in Leinen gebunden 7 Mark 50 Pf., in Äalbfranz-Liebhabereinband 10 Mark Karl Kraus, der als Gesellschaftskritiker am literarischen Limmel mächtig aufleuchtste, entpuppt sich nicht als Fixstern, als den man ihn zuerst sichtete, sondern als Komet mit unendlicher Bahn, die nur in einem kleinen Segment für eine geschloffene Ellipse gehalten werden konnte. Er eilt schon längst mit Sternen- geschwindigkeit in die Unendlichkeit, aus dem Reich des Verstandes in das Reich des Geistes. Dabei ent wickelt er so viel Gescheitheit, daß sich seine Leser und Verehrer mit dieser unterhalten wollen, mit seiner Gegenständlichkeit und Stofflichkeit, während er ins Geisterreich entflieht. Aus dem Schriftsteller des Tages wird ein Schriftsteller des Jahrzehnts und des Jahrhunderts. Wir freuen uns, seine Aufsätze gesammelt und dadurch dem Mißverständnis entrückt wiederzufinden. Das sind keine Essays mehr, das sind Geschiebe von Aphorismen, Gedankenkristalldrüsen. Man kommt dem Inhalt ebensowenig auf den Grund wie der Technik, das heißt, es ist unmöglich, die konkret gestaltete Weltanschauung in eine blaffe Abstraktion zurück- aufzulösen. Kraus beantwortet abstrakte Fragen konkret, dies ist sein hinreißender Zauber, dies rückt ihn unmittelbar an dis Seite des produktiven Künstlers, Cr wählt für seine Kunstwerke die Form der Abhand lung, ungleich anderen Schriftstellern, die in der Form von Kunstwerken Abhandlungen schreiben. Beim Lesen hat man das Gefühl, durch eine unwiderstehliche Kette, aber nicht von Schlüffen, sondern von Kurz schlüssen gezogen zu werden. Strotzend von Weltanschauung und Persönlichkeit und doch unanalysierbar ist diese strömende Prosa, deren tiefe Rätsel einst die Sprachforscher reizen werden, wie seine Ideen die Phi losophen. Dis Grundstimmung aller dieser Abhandlungen ist trotz der leidenschaftlichen Schmerzempfind- lichkeit, die aus ihnen spricht, doch nicht finster, gar nicht bitter, nicht schopenhauerisch verdrossen, sondern hellklirrend, knisternd und knatternd, heiß und liebenswürdig und schalkhaft. Nein, er ist kein Teufel, dieser einzigartige Schriftsteller, über den zu staunen Deutschland nun langsam lernen wird. München, im Juni I9l0