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^ 17, 22. Januar 1910. Nichtamtlicher Teil. Börsenblatt f. d. Dtschn. Buchhandel. 917 Studierenden, Besuch der Vorlesungen, Verhältnis des Do zenten als Gelehrten und Lehrers zu seinen sonstigen Aufgaben als Fakultätsrnitglied, die Angliederung neuer Disziplinen, die Abgrenzung der Lehrtätigkeit der Dozenten verschiedener Fakul täten gegeneinander, Geschichte der Ordinariate und Extra ordinariate: alles das verfolgen wir bei der Lektüre dieser Bände von der frühen Vergangenheit an. Freilich kommt die Gegenwart, wie schon eingangs angedeutet, in den beiden ersten Bänden etwas kurz weg. Es ist verständlich, wenn beide Verfasser gegenüber der Wirksamkeit der Lebenden, in deren Kreisen sie selber stehen, die äußerste Objektivität be wahren, eine Objektivität, die nicht hinausgeht über die bloße Nennung des Namens. Allein diese Linie haben auch die drei folgenden Bände eingehalten, und doch ist in ihnen, nicht die Person, wohl aber die Sache der Gegenwart in der vollkommen sten Weife vorgetragen. Sie zeigen uns die Institute und Se minare mit ihrem wissenschaftlichen Betriebe darin, als wenn ihre Wände von Glas wären. Über Geist und Betrieb der Theologie undJurisprudenz an der heutigen Universität Leipzig dagegen bleibt ein gewisser Schleier gebreitet. Wer den Lauf dieser beiden Geschichten von Anno 1409 ab verfolgt hat, der hätte Wohl gern abschließend zusammengefaßt gesehen, wie in der Stunde der Gegenwart der Unterricht organisiert ist, was nach Inhalt, Umfang und Methode dem Studierenden der Theologie und der Jurisprudenz geboten wird, wie sich feine Fachstudien zu den Vorlesungen der Nachbarwissenschaften verhalten, in welcher Richtung inhaltlich sich der Geist beider Wissenschaften hier bewegt, u. dgl.; und wohl hätte sich daran in diesen Dokumenten eines Halbjahrtausends, die man sich nach abermals einem Halbjahrtausend wieder aufgeschlagen denkt, doch vielleicht ein, wenn auch ganz kurzer, auf die un mittelbare Vergangenheit bezüglicher Rechenschaftsbericht und auf die nächste Zukunft bezüglicher inhaltlicher Voranschlag knüpfen können. Wenn man an die Eigenart jedes der beiden Bände denkt, so dürfte diese Art des Abschlusses vielleicht besonders bei Kirn empfunden werden, weil dieser auf die Geschichte gerade der»An- schauungen und Leistungen« so großes Gewicht gelegt hat, während bei Friedberg die äußeren Verhältnisse (der Frequenz, der Prüfungen, der Gebäude, des Studentenlebens usw.) — die in beiden Bänden (bei Kirn abzüglich der Geschichte der Gebäude u. dgl.) bis zur Gegenwart verfolgt wird — ganz anders vorwiegen. Dazu kommt, wenn dies einem Referenten auszusprechen gestattet ist, der ganz von der Hochachtung vor den tüchtigen und lauteren Charakteren auch der gegenwärtigen Theologie und vor ihren den reinsten und edelsten Bedürfnissen des Menschenherzens gewidmeten ehrwürdigen Aufgaben durchdrungen ist, für eben diesen Referenten das — mag fein sehr subjektive — Gefühl, als wenn Kraft, Drang, Wert, Lust, Festigkeit und Sicherheit, Tiefe und Weite des Bewußtseins spezialwissenschaftlicher und allgemein-menschlicher Aufgaben, wie in den Stellen, die wir oben berührten, so in den Schluß sätzen des Bandes einen gerade bei diesem Gebiete auffallend schwachen Ausdruck gefunden hätten. Wenn die Herrschaft des Dogmas gebrochen ist, gibt es keine spezifisch theologische Wissenschaft mehr, sondern Geschichte, Philologie, Psychologie und Philosophie der Religion und Kirche, dazu Lehre und Übung der praktischen Gebiete. Die Männer der Wissenschaft von heute sind Spezialisten, und es ist dies, was die Wissen schaften auf die Stufe von heute gestellt hat, sie hier erhält und von hier höher führt, und die universalsten Geister der Philo sophie selbst, sie wirken nicht in jener Tiefe und Fülle ringenden und zündenden Menschentums, wie vor hundert Jahren die Fichte und Hegel. Diese strengere Zucht und Haltung muß auch die Theologie als Wissenschaft unter Wisfenschaften be wahren. Nun hat aber jedes wissenschaftliche Gebiet seine wandelbaren und seine unwandelbaren Elemente. Das un wandelbare Element der Theologie wurzelt in einer Tiefe de? Bewußtseins, die sich die Theologie, wenn sie nicht in dem oben angedeuteten Sinn zersplittern will, nicht nur nicht rauben, sondern auch nicht brechen lassen darf. Die Kraft dieser Un- Wandelbarkeit hat sich aber gerade darin zu beweisen, daß sie sich der Wandlungen der geistigen Kultur bemächtigt und mit ihnen verschmilzt. Es wäre vielleicht um so schöner gewesen, wenn man (nicht etwa dies oder ein ähnliches Wort vernommen, wohl aber) den kräftigen Herzschlag eines modernisierten, positiv gewandten: »Ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht«, hinter den letzten Sätzen gespürt hätte. Im ersten Bande Lehrer und Lehre, im zweiten Leben, Brauch und Einrichtung: im dritten und vierten Raum und Werkzeug; Raum und Werkzeug der Forschung und des Stu diums und ihrer praktischen Verwertung. Aus den Blättern der ersten beiden Bände grüßen die Züge der großen Universitäts lehrer, aus denen des zweiten dazu das Bild des Auditoriums, in dem auch Goethe einst hörte; die Tafeln der drei folgenden Bände zeigen weder ein einziges Bildnis, noch die Ansicht eines Auditoriums aus vergangener Zeit. Hier blickerOuns entgegen Kunstwerke und Lehrmittelsammlungen der Gegenwart; Vege- tations- und Kalthäuser; Präparier- und Operationssäle; Linienzähler und Seismometer. Es sind im ganzen die letzten vier Jahrzehnte, in denen diese Institute und Seminare ent standen sind, wenn auch natürlich ihre unmittelbare Vor geschichte zum Teil weit ins neunzehnte Jahrhundert, ja bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückgreift: die beiden ersten Bände Denkmäler eines halben Jahrtausends, die drei letzten solche eines halben Jahrhunderts; in weiterer Erstreckung der Jahrzehnte etwa, die auch Kirn »die letzten« nannte, d. h. die Jahrzehnte etwa von 1831, in engerer etwa von der Be gründung des Deutschen Reiches ab. Genauer gilt das, was wir von Raum und Werkzeug gesagt haben, speziell von dem dritten, die medizinische Fakultät be treffenden Bande und dem zweiten Teile des vierten, die mathematisch-naturwissenschaftliche Sektion der philosophischen Fakultät betreffenden Bandes, die in die Welt der exakten Wissenschaften führen. Sie behandeln zusammen 31 Institute, Laboratorien, Kliniken, und es ist ein überwältigender Eindruck, diese mit ihren Räumlichkeiten, ihren Werkzeugen, ihrem Betrieb auf der Stufe höchster Vollendung stehenden Anstalten flüchtig zu durchwandern, so in der ganzen Fülle ihres Reichtums sie auf sich wirken lassend, hier und dort, wo das Interesse besonders gereizt wird, länger zu verweilen, so an einzelnen Punkten tiefer in diese Wunderwelt sich versenkend. Wir lernen, unter stützt durch die Betrachtung der beigegebenen Grundrisse und Lagepläne, die Anlage aller dieser Gebäude kennen und durch wandern alle ihre Räume, besichtigen — unterstützt wiederum durch Abbildungen z. B. von Präparier-, Mikroskopier-, hydro therapeutischen, Operations-Sälen, Sälen für bakteriologische Arbeiten, chemischen Laboratorien, physikalischen Hörsälen und Sammlungen, astronomischen und seismologischen Instru menten — ihre Einrichtungen und Werkzeuge und erfahren, wie hier in Forschung, Lehre, Übung und Ausübung gearbeitet wird. Wir sagten schon, daß auch die Abhandlungen der Bände III, IV i und IV 2 von kurzen, ihr Spezialgebiet betreffenden, ge schichtlichen Orientierungen eingeleitet werden. So, bei aller Knappheit, gründlich, klar und elegant ist das allerdings nicht überall der Fall, wie beispielsweise in der das physikalische In stitut betreffenden Abhandlung von Otto Wiener, der auch für einen speziellen Fall Nachforschungen auf dem Hauptstaats archiv zu Dresden nicht gescheut hat, und der zunächst die Lite ratur verzeichnet und dann einen kurzen Rückblick auf die Ge schichte der Physik an der Universität Leipzig in folgender über sichtlicher Gliederung bietet: Zeit der scholastischen Physik (1409—1710), Zeit nachweislicher Apparatesammlungen der 120