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916 Börsenblatt s. d. Dtschn. Buchhandel. Nichtamtlicher Teil. 17. 22. Januar 1910. Nichtamtlicher Teil Die Festschrift zur Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig herausgegeben von Rektor und Senat. 1409—1809. (Schluß zu Nr. 16 d. Bl.) Wir haben angedentet, daß gerade der erste Band des Ge samtwertes in besonderem Maße als ein Gang durch die Ge samtgeschichte der Universität Leipzig gelten kann. Damit steht ganz im Einklang seine klare, dem Rhythmus der geistigen Ent wicklung sich genau anschmiegende Gliederung, mit der er einen Längsschnitt zugleich durch die Gesamtstruktur der Ent wicklungsgeschichte der Leipziger Universität legt: der erste Ab schnitt behandelt die Anfänge, 1409—1500, der zweite die Zeit des Zwiespalts zwischen Protestantismus und Humanismus einerseits, Katholizismus und Scholastizismus andererseits unter Herzog Georg, 1500—1639; die beiden folgenden Ab schnitte führen von der Einführung der Reformation durch die kryptocalvinistischen Wirren (bis 1592) und den Kampf gegen Synkretismus und Pietismus bis zu dem Eindringen des neuen Geistes, das der fünfte Abschnitt (1699—1751) behandelt; der sechste schildert die Ausbildung einer selbständigen biblischen und historischen Theologie, 1751—1831, und endlich der siebente die Ereignisse und Wandlungen der letzten Jahrzehnte, 1831—1908. Friedberg, seine Darstellung mehr nach der Breite als in der Längsrichtung entwickelnd, teilt ab nach Jahrhunderten. Und verfolgt Kirn das Ziel, die Persönlichkeiten und ihre An schauungen in den Mittelpunkt zu rücken, so dominiert, bei Friedberg jene »Entwicklung der Institutionen«, die Kirn in zweite Linie stellt, und mit der Auszeichnung hervorragender Universitätslehrer ist er sehr sparsam: Benedikt Carpzow (Ordi narius 1645—1653), der »wissenschaftliche Glanzpunkt Leipzigs während des ganzen siebzehnten Jahrhunderts«, durch den die Fakultät »alle übrigen deutschen überstrahlte«; Karl Ferdinand Hommel (Ordinarius 1763—1781), der »wissenschaftliche Glanz punkt der Leipziger Fakultät« im achtzehnten Jahrhundert; Christian Gottlieb Haubold (f 1824); schließlich die großen, sämtlich von auswärts nach Leipzig berufenen Juristen seit Beginn der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts von Wächter bis Windscheid. Die Bildnisse zeigen aus dem sieb zehnten Jahrhundert Siegismund Finkelthaus und Benedikt Carpzow, aus dem achtzehnten Lüder Mencke, Carl Otto Rechenberg und Carl Ferdinand Hommel, aus dem neun zehnten Christian Gottlieb Biener, Carl Georg von Wächter, Wilhelm Eduard Albrecht, Karl Friedrich von Gerber, Otto Stobbe, Bernhard Windscheid. Kirn, um das hierbei anzu schließen,Abietet die Bildnisse von Seinecker, Hülsemann, Olearius, Crusius, Ernesti, Tzschirner, Christian Gottlob Lebe recht Großmann (1829—1857), Luthardt und Delitzsch. Der Unterschied zwischen der persönlich orientierten Ge schichte Kirns und der institutionell orientierten Friedbergs — um bei der einmal aufgenommenen Bezeichnung dieser Ver schiedenheit zu bleiben — macht sich am stärksten geltend in der eingehenden Berücksichtigung, die Friedberg, auf der Grund lage seines »Oolischuw ckurickioum«, der Geschichte der Fakul tätsgebäude zuteil werden läßt. In gewisser Hinsicht umgekehrt, wie oben angedeutet, nähern und berühren sich beide Dar stellungen sogar inhaltlich. Mit Recht bemerkt Kirn, daß sich die Lebensformen und Ordnungen natürlich nur schwer für ein bestimmtes Gebiet isoliert behandeln lassen; soweit sie die Ge schichte der Fakultät mit der allgemeinen Geschichte, dem allge meinen Geiste"der«Universität in Verbindung zu setzen haben, beleuchten deshalb beide Verfasser von verschiedenen Stoff gebieten her die gleichen allgemeinen Verhältnisse. In dessen nimmt natürlich bei Friedberg die Schilderung der »Lebensformen-und Ordnungen« einen größeren Raun., ein; um wieviel mehr Raum. Kirn den Persönlichkeiten gönnt, um soviel mehr räumt Friedberg der Schilderung der Prü- fungs- und Promotionsbräuche, des Verhältnisses zwischen Universität und Stadt, des studentischen Lebens ein. Wir lesen ein Schreiben, das ein juristischer Student im Jahre 1424 nach Hause sandte — früh um 5 Uhr beginnen die Kollegien, um 4 Uhr muß er sich erheben —, wir durchblättern das Kollcgien- hest eines lehrenden Baccalarius des fünfzehnten Jahrhunderts und vernehmen so ein juristisches Kolleg, wie der Leipziger Student vor so langer Zeit es hörte, erleben eine Doktor promotion des fünfzehnten bis sechzehnten Jahrhunderts vom Anschlag der Thesen bis zu Prandium, Umritt und Tanz, sehen die Studierenden die Stadt mit Waffen durchziehen und hören sie brüllen »wie das arkadische Vieh«, wir wohnen und essen mit ihnen für wöchentlich fünf Groschen in den Bursen — wobei wir uns zu hüten haben, dem Verbote zuwider den Eingang ins Zimmer durchs Fenster zu nehmen, als wofür man eiüe Woche zu hungern hat. Wenn Kirn das archivalische Material vornehmlich nach der Seite der persönlichen und korporativen Anschauungen und des persönlichen und korporativen Wirkens verwertet, so liegt ein besonderer Wert und Reiz der Friedbergschen Arbeit in der sozialgeschichtlichen und gleichsam kulturgeographischen Be leuchtung, unter die er die juristischen Doktorbücher stellt. Eine Arbeit —außerordentlich mühevolle Vorarbeit voraussetzend—, die, woran wir hier vielleicht erinnern dürfen, auf buchhandels geschichtlichem Gebiete an gewisse Materialien und Arbeiten erinnert, die seinerzeit Albrecht Kirchhofs veröffentlicht hat: wir meinen besonders die Untersuchung alter buchhändlerischer Register aus Leipzig, deren Personale, wie bekannt, sich be sonders aus studentischen Kreisen zusammensetzt, und deren Ver gleichung mit den Friedbergschen Ergebnissen in geo graphischer Hinsicht sich wohl lohnen könnte. Wie die, bei all ihrer Knappheit und Sachlichkeit und ihrer staunenswerten Verfügung über ein unendlich reiches handschriftliches und ge drucktes Material doch behaglich einhergehende und behaglich zu genießende Schilderung des Lebens der Leipziger Universi tätslehrer und Studenten in alter und ältester Zeit, überhaucht so häufig von einem gewissen trockenen Humor, aus Friedbergs »(Kollegium ckuiickioum« und »Universität Leipzig in Vergangen heit und Gegenwart« als nicht unbekannt vorausgesetzt werden kann, so diese Analyse der Doktorlisten aus seinen »Hundert Jahren aus dem Doktorbuche der Leipziger Juristenfakultät«. Friedberg behandelt die Doktorlisten nach der Heimat der Dok toren, nach den Lebenskreisen, denen sie entstammen, nach ihrem Lebensalter, nach ihrer späteren Lebensstellung, nach ihrer schriftstellerischen Tätigkeit und wissenschaftlichen Be deutung: welche Arbeit, die in diesen Untersuchungen steckt, welches Interesse aber auch, das sie erwecken, wenn man be denkt, daß sich die Untersuchung auf das sechzehnte, siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert erstreckt und 677 Doktoren umfaßt! Aufgebaut auf jener verhältnismäßig gleichen Unterlage, durchzogen bei Kirn von der Kette der Persönlichkeiten, um wachsen vornehmlich bei Friedberg von Sitte und Brauch und umgeben von so wertvollen Einzelbehandlungen wie z. B. bei Kirn der Bearbeitung der theologischen Gutachten und bei Friedberg vor allem derjenigen der Doktorlisten, geht durch beide Bände hindurch die Verfolgung des Personalbestandes und der Aufgaben der Fakultät, des Inhalts und Betriebes des Unterrichts und Studiums, der theologischen und juristischen Frequenz. Dauer der Studienzeit, Alter der Studenten, Gra- dations- und Prüfungswesen, der Besuch verschiedener Uni versitäten durch den Studenten, Gegenstände, Geist, Einrichtung und Anzahl der Vorlesungen und Disputationen, Zahl der