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Ist es nöthig, die nun folgende Scene zu beschreiben? Der Sohn war zurückgekehrt, edel, hochherzig, unverdorben, wie er ge gangen, und wurde von den Seinen bewillkommnet, wie ein vom Tode Auserstandener; der rechtmäßige Erbe von Harrington Hall zog nach langen Jahren der Trennung endlich wieder ein in das Vaterhaus! Brander, der einsah, daß ihm jetzt keine Ausreden, keine Lügen mehr helfen konnten, musterte rasch die Thür und die Fenster; aber nirgends bot sich ihm ein Ausweg zur Flucht. Er warf sich in einen Lehnstuhl, gebrochen an Geist und Körper. Seine Sünden kamen über ihn und es blieb ihm nur noch übrig, die Strafe dafür zu empfangen. Es währte lange, ehe die Wiedervereinten auch an Andere dachten. Guido machte sich endlich sanft aus de» Armen seines Vaters srei, ging zu Nelly, erfaßte deren Hand und führte sie zn seinem Vater. „Vater", sprach er mit seiner volle», wohlklingenden Stimme, „ich habe Dir eine lange Erklärung zu geben. Vorläufig aber mögen Dir nur die Hauptpunkte genügen. Ich ivar bei einem Schiff bruch an der sicilianischen Küste am Kopfe schwer verwundet worden und kam zum Leben zurück als ei» blödsinniger — ein hülfloser, vollständig Blödsinniger. Ich war verlassen, ohne Freund, und dem Tode nahe. Daß ich meinen Verstand wieder habe, daß ich heute noch am Leben bin, ist einzig und allein diesem edlen Wesen zu danken. Sie war meine Beschützerin und Wohlthäterin; selbst in der schwersten Stunde eigener Noth und Gefahr wollte sie den unglücklichen Blödsinnigen nicht verlassen, der keine andere Ansprüche an sie hatte, als die der Humanität. Sie ist es, der Du es zu danken hast, mich in diesem Leben wiederzusehen." Sir Harry streckte seine Hand nach Nelly aus. Diese erröthete unter seinen Blicken, die großen, dunklen Augen blickten zaghast zu ihm auf, aber ihre Hand erhob sich nicht um der seinen zu begegnen. „Vater", fuhr Guido mit bewegter Stimme fort, „Nelly ist mir mehr als eine Beschützerin und Wohlthäterin — sie ist mein Weib!" Sir Harry sah seinen Sohn erstaunt an; aber sein Gesicht wurde freundlicher und seine Augen leuchteten Heller, als er die Gattin seines Sohnes an sich zog und ihre Stirne küßte. „Meine Tochter," sagte er mit väterlicher Zärtlichkeit, „sei willkommen in meinem Hause und in meinem Herzen. Das ist eine glückliche Ueberraschung für mich. Das ist»für mich das glücklichste Weihnachtsfest, welches ich hier erlebt habe. Er küßte sie nochmals und entließ sie. Nelly fühlte, daß er sie in sein Herz eingeschlossen und daß sie mit dem Gatten auch einen Vater bekommen hatte. Guido nahm ihren Arm und führte sie zu Ella, welche sie mit sanftem Lächeln und Thränen in den Augen empfing. „Ella, ich bringe Dir eine Schwester," sagte er heiter. „Nelly, dies ist Ella, von welcher ich Dir erzählt habe." Die beiden Frauen begrüßten sich herzlich. Guido wandte sich jetzt zu seinem falschen Freund und früheren Gesellschafter und betrachtete ihn mit ernstem, traurigem Blick. Brander erhob sich zitternd und näherte sich Harrington mit niedergeschlagenen Augen. „Ferdinand Brander," sprach Guido mit sorgenvoller Stimme; „sehen wir uns so wieder?" „O, Guido, Guido!" rief Brander schluchzend, „ich danke Gott, daß Sie gerettet und zu Ihrem Eigenthum zurückgekehrt sind. So wahr Gott mein Zeuge ist, ich habe um Sie getrauert. Ich hielt Sie so gut wie todt. Ich war arm und fand in Ihrem Unglück eine passende Gelegenheit, mich zu bereichern; die Versuchung war zu groß, als daß ich ihr hätte widerstehen können. Ich bekenne meine Schuld; und die Vergeltung ist gekommen, wie ich es längst im Stillen befürchtet hatte. Wiederholt spreche ich es aus, daß ich mich freue, Sie wieder im vollen Besitz Ihres Verstandes und in die Heimath zurückgekehrt zu sehen. Ich verdiene die Strafe, welche das Gesetz mir zusprechen wird. Ich habe Sir Harry betrogen und bestohlen, ich habe Miß Ella Bamfield schändlich hintergangen und würde sie geheirathet haben, während ich bereits verheirathet war. Wie es scheint," fügte er bitter hinzu, „haben Sie einen Polizisten mitgebracht, denn ich sehe einen Mann hier in der Thür stehen. Lassen Sie ihn nur hereinkommen und mich gefangen nehmen." Fanny, welche mit der größten Spannung dem ganzen Vorgänge gefolgt war, stieß bei den letzten Worten ihres Mannes einen wilden Schrei aus und stürzte vor Sir Harry auf die Kniee, indem sie mit herzzerreißender, ihre Angst und Verzweiflung verrathender Stimme rief: „O, schonen Sie ihn! Haben Sie Erbarmen mit ihm, Sir Harry! Er wußte nicht, was er that! Erlassen Sie ihm die Strafe! Haben Sie Erbarmen um meinetwillen! Er ist meine einzige Stütze, er ist das einzige menschliche Wesen, das ich in der Welt habe und das ich liebe. O, Sir Harry, ich liebe ihn ungeachtet alles Vorgefallenen, trotz aller seiner Vergehen!" Sir Harry sah die verzweifelnd Bittende ernst an, antwortete aber nicht. „Vater", sagte Guido in mildem Tone, wenn diese arme so schwer gekränkte Frau diesem Mann vergeben kann, so könnten ivir, denke ich, ihm auch verzeihen." „Du hast Recht, mein Sohn," entgegnete der Baron. „Er mag gehen. Die einzige Strafe für seine Schändlichkeitn mögen die Vorwürfe sein, die sein eigenes Gewissen ihm sicher machen wird. Mrs. Brander, Ihre Liebe zu ihm hat ihn den Händen der irdischen Richter entzogen." Fanny sprang auf, küßte die Hand des Barons ungestüm und sprach in warmen Worten ihren Dank aus. Brander sah aus wie Einer, der im letzten Augenblick seiner Hinrichtung auf dem Schaffst seine Begnadigung empfängt. Er stammelte seinen Dank und schritt dann mit Fanny der Thüre zu. Doch ehe er diese noch erreicht hatte, wurde sie weit geöffnet und Gildon's ganze Gestalt wurde sichtbar. Brander blieb unwillkürlich stehen und starrte den ihm den Weg Versperrenden an. Dieses markige Gesicht mußte er schon einmal gesehen habe». Er dachte zurück bis in seine früheste Kind heit, und plötzlich entschlüpften seinen Lippen unwillkürlich die Worte: „Mein Vater!" Leise waren die Worte gesprochen — nur hervorgehaucht, aber Gildon hatte sie doch gehört; er trat einen Schritt näher und sagte: „Ja, ich bin Dein Vater!" „Der Vater, der mich in meiner Kindheit verlassen hat; der Vater, der sich nie um mich bekümmerte, so daß ich selbst durch die Welt mich kämpfen mußte, der Vater, welcher der Versuchung mich preisgab, die mich zum Verderben führte! Verflucht —" „Halt!" rief Gildon, warnend seine Hand erhebend. „Spare Deinen Fluch, junger Mann! Jcb bin Dein Vater Roderich Gildon. Ich kenne Deine Geschichte und Deine Vergehe». Ich bin kinderlos, außer Dir, und da Sir Harry Dir so gütig vergeben hat, bin ich geneigt, Dich als meinen Sohn und Erben anznerkennen. Was sagst Du dazu? Soll nun Friede zwischen uns sein?" „Friede! sprach Fanny hastig. „Gieb nach, Ferdinand!" „Ja," sagte Brander tonlos, „es soll Friede zwischen uns sein." Er reichte Gildon die Hand, die dieser drückte und damit war die Vereinigung besiegelt. „Wirst Du mich nun, da Du Alles weißt, mich nicht verlassen, Fanny," sagte Brander zitternd. „Ich verdiente es, wenn Du Dich von mir abwenden würdest." „Aber ich will es nicht," erwiederte Fanny liebevoll. „Du hast Unrecht gethan, Ferdinand, aber Du kannst das begangene Unrecht zum Theil gut zu machen suchen durch ein rechtschaffenes, ehrliches Leben. Wir wollen ein neues L eben beginnen. Komm laß uns gehen." Sie gingen hinaus gefolgt von Gildon, welcher sie einlud, in dem wartenden Wagen mit ihm Platz zu nehmen, und im nächsten Augenblick fuhren sie davon. In Gloucester angekommen, benutzten sie den nächsten nach Northumberland fahrenden Zug, um nach Trübenfeld zu gehen und das Kind zu beerdigen. Nachdem Gildon und dessen Sohn und Tochter das Zimmer verlassen, vermißte der Baron plötzlich Ella, welche sich inzwischen unbemerkt entfernt hatte. Von einer seltsamen Unruhe getrieben, ging er, sie zu suchen und fand sie in der Bibliothek. Er näherte sich ihr und erfaßte ihre Hand. „Weinst Du über die Enttäuschung, welche Dir durch Brander zugefügt worden ist?" fragte er sie freundlich. „Nein, Sir Harry," erwiderte Ella mit einem Zeichen deS Widerwillens. „Ich würde ihn doch nicht geheirathet haben, auf keinen Fall. Vergangene Nacht hatte ich den Entschluß gefaßt, lieber zu sterben, als ihn zu heirathen. Meine Achtung vor ihm schwand in jener Nacht, als ich ihn den Diebstahl ausführen sah, und was die Liebe betrifft, so hatte ich ihm selbst schon gesagt, daß ich ihn niemals geliebt habe." „Aber Guido ist verheirathet." „Ich freue mich dieser Heirath," versetzte Ella bewegt. „Nelly ist seiner würdig; sie ist so liebenswürdig, so edel, und so herzge winnend! Bedenke nur, daß er ihr Geist und Leben zu danken hat." „Und ist es gewiß, daß alle diese Veränderungen und Zwischen fälle Dich nicht betrüben?" „Ganz gewiß." „Verzeihe mir, Ella, fuhr der Baron freundlich fort, „aber ich fürchte dennoch, daß Du bei dieser unerwarteten Wendung der Dinge irgendwie verletzt morden bist. Hast Du niemals geliebt?" „Das — das habe ich nicht gesagt!" flüsterte Ella erröthend. „Also Du hast geliebt! Und ich war nicht im Stande, diese bittere Enttäuschung von Dir abzuwenden. O, Ella! Ella!" Ella erhob ihre großen Augen, aus denen ein Blick flammte, vor dem der Baron erbebte; denn in diesem Blick lag das ganze Geheimniß offenbar. Ja, es war kein Zweifel, sie liebte Sir Harry wie er Ella liebte. „Mein Liebling," sprach er leise, „ist es wahr, daß ich für unmöglich hielt, was ich so sehr gewünscht und woran ich doch kaum zu denken wagte — bin ich es, den Du liebst?" Ella warf sich schluchzend an seine Brust und Sir Harry drückte sie fest und innig an sich. Das Maß seines Glückes war voll: Seinen Sohn hatte er wiedergefunden und seine Ella — seine sanfte unschuldige Ella, die er so lange im Stillen geliebt, war jetzt sein für immer. Ferdinand Brander konnte sich von dem Schlage, der ihn so unerwartet und in dem Augenblicke getroffen, als er sich bereits auf der Höhe seines erträumten Glückes gesehen hatte, nie wieder erholen Er beschloß zwar ein neues Leben zu beginnen, aber das Andenken an seine Schuld lastete zu schwer auf seiner Seele, um ihn wieder glücklich werden zu lassen. Zudem konnte er sich mit seinem plötzlich wiedergefundenen Vater nicht befreunden. Beide führten ein unbe hagliches, elendes Leben. Dunkle Schatten lagen auf ihrem Wege. Ruhelos irrte Brander uinher und nur die treue, aufopfernde Liebe schützte ihn vor der Verzweiflung. Aber seine Kraft war gebrochen und er ging noch Gildon voran, der kurze Zeit nach seinem Sohne starb. Fanny hatte die traurige Pflicht zu erfüllen, Beiden die Augen zuzudrücken. In ihren Arinen hauchte der falsche Erbe von Harrington Hall sein schuldbeladenes Dasein aus. Das bedeutende Vermögen Gildon's wurde in Fanny Brander's Händen zu einem segensreichen Mittel, Noth und Armuth zu lindern. Sir Harry kaufte für seinen wiedergefundenen Sohn ein in der Nähe von Harrington Hall gelegenes Gut mit einem hübschen Ein kommen, und schon einige Wochen später hielten Guido und Nelly ihren Einzug daselbst. Mitte Februar fand die Hochzeit Sir Harry'S mit Ella statt, und es ist schwer zu sagen, wer glücklicher war — Nelly oder Ella; und wer sich zärtlicher und liebevoller gegen seine junge Frau verhielt — der Baron oder sein Sohn Guido.