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Beilage zu M. 85 des Anzeigers für Zwönitz und Umgegend. Sonnabend, de» IS. Juli 1884. Der falsche Erbc Von Eduard Wagner. (Fortsetzung.) Als das Mahl beendet war, das Brautpaar aber noch an der Tafel saß, wurde ein starkes Klopfen an der Hausthür hörbar. Geffrey eilte hinaus und kehrte nach wenigen Augenblicken mit der Meldung zurück: „Mr. Gildon ist angekommen; er ist in der Wohnstube und wünscht sogleich Miß Nelly zu sprechen." „Wir wollen zu ihm," entgegnete Harrington. „Geffrey, sorge dafür, daß die Pferde in einer Stunde angespannt sind, um uns nach Alnhalm zu fahren, wo wir ein andres Fuhrwerk nehmen wollen." Er erhob sich ruhig, ebenso Nelly, welche seinen Arm nahm und beide begaben sich nach dem Wohnzimmer. Mr. Gildon schritt behaglich im Zimmer auf und ab; sein Ge sicht zeigte deutlich, daß er mit sich selbst zufrieden war, endlich, Dank seiner Ausdauer, am Ziele seines langen Suchens zu sein. Als Nelly und Guido eintraten, blieb er stehen und betrachtete sie mit triumphirendem Lächeln. „So habe ich Sie endlich gesunden, meine schöne Mündel?" fragte er frohlockend. „Sie haben Ihre zweite Flucht von Palermo wirklich geschickt ausgeführt, Nelly; doch Sie sehen, daß Sie mir nicht für immer entgehen können. Warum sprechen Sie nicht? Macht mein bloßes Erscheinen Sie stumm?" „Nehmen Sie auf Ihre Worte dieser Dame gegenüber mehr Bedacht," sagte Guido stolz. „Ein etwas respektvoller Ton würde Ihnen etwas besser anstehen!" Gildon erschrack und starrte den Mann mit großen Augen an. Jetzt erst schenkte er diesem volle Beachtung, und da siel ihm denn sofort dessen große Veränderung auf, seitdem er ihn zum letzten Male gesehen. Das edle, intelligente Gesicht schien ihm wenig Aehnlichkeit zu haben mit jenem müden, ausdruckslosen, deffeu er sich so wohl erinnerte. „Ha!" stieß er unwillkürlich hervor. „Ist das Ihr Blödsinniger Nelly? Was — wie — „Als Sie mich zuletzt sahen, mar mein Geist allerdings um- nachtet," siel ihm Harrington ernst und stolz ins Wort; „aber seit meiner Rückkehr nach England - Dank Nelly's Fürsorge — bin ich unter ärztlichem Beistand wieder hergestellt und im vollen Besitz meines Verstandes." „Wirklich!" rief Gildon, unfähig, sein Erstaunen zu verbergen. „Dr. Spezzo sagte doch, daß Ihre Wiederherstellung unmöglich sei. — Nun, das ist mir gleichgiltig, ich denke aber, es wird Ihnen be kannt sein, daß ich der Vormund der jungen Dame bin, und als solcher befehle ich Ihnen, ihren Arm zu entlassen. Nelly, haben Sie so wenig Selbstachtung und Anstandsgefühl, daß Sie sich an diesen Mann schmiegen? Ich werde genöthigt sein, von meiner rechtsmäßigen Autorität —" „Damit ist's vorbei!" unterbrach ihn Harrington. „Jetzt bin ich der Beschützer der Dame!" „Sie? Mit welchem Recht? „Mit welchem Recht eines Gatten!" antwortete Guido mit Nachdruck. „Wir sind heute Morgen in dem kleinen schottischen Dorfe Dunmuir getraut worden." Gildon stieß einen furchtbaren Fluch aus und sank dann, wie vom Blitz getroffen, auf einen Stuhl nieder. „Getraut!" hauchte er hervor. „Getraut!" „Ja. Wollen Sie vielleicht zur Prüfung meiner Aussagen den Trauschein ansehen? Hier ist er." Dabei zog Guido das Document aus der Tasche und reichte es Gildon. Dieser warf einen Blick darauf und gab es dann dem jungen Manne zurück, welcher es wieder in die Tasche steckte. „Getraut!" wiederholte Gildon mit hohler Stimme. „Es ist also Alles vorbei! O, wäre ich doch gestern Abend gekommen! Hätt' ich nur heute eher ein Pferd bekommen! Nun ist's zu spät! zu spät!" „Ja, es ist zu spät für Sie, um gegen Nelly ferner von Liebe zu sprechen," bemerkte Guido. „Die Zeiten für Ihre Heirathspläne in Betreff Ihrer Mündel, Ihre Verfolgungen lind Gewaltthätigkeiten sind für immer vorbei. Wir haben Sie heute ins Haus gelassen, um sie von dem Vorge fallenen bekannt zu machen. In einer Stunde werden wir abreisen, deshalb werden Sie erlauben, daß wir uns jetzt zurückziehen." Gildon stand auf und erhob sein Gesicht, welches vor Aerger und Wuth erröthete. „Einen Augenblick noch Mr. Ferdinand Brander," rief er mit bitterer, scharfer Stimme. „Ehe Sie mir die Thüre zeigen, will ich ihnen sagen, wer Sie sind. Zuvor aber erlauben Sie mir, Miß Nelly, Sie darüber aufzuklären, wen Sie geheirathet haben. Ihr edler Bräutigam, Mr. Brander, ist ein armer, bedauernswerther, gänzlich mittelloser Mann — ein Bettler, den Sie genöthigt sein werden, sein ganzes Leben lang zu versorgen. Dies ist jedoch Neben sache; aber da unten in dem Nachbarhause ist eine 'jnnge Frau, die jetzt, über die Leiche ihres Kindes gebeugt, vergeht, und welche ältere und daher gerechtere Ansprüche ans Ihren ehrenwerthen Bräutigam hat durch eine Heirath im Auslande. Was haben Sie nun zu sagen?" „Nichts, als daß es Lügen sind, wie die meisten Ihrer Be hauptungen!" entgegnete Nelly mit Entrüstung. „Glauben Sie?" fragte Gildon höhnisch und fuhr daun lächelnd im Bewußtsein seiner Ueberlegenheit fort: „Sie wollteil nicht meine Frau werden — wie gefällt es Ihnen denn, meine Schwiegertochter zu sein — die Frau meines unehelichen Sohnes? Ferdinand Bran der, Ihr hübscher Bräutigam, ist nämlich mein nicht anerkannter Sohn, Madame. Die Verwandtschaft wird jedoch nichts nützen, da ich ihn niemals öffentlich anerkennen werde. Ich überlasse es Euch beiden Frauen — Eure Ansprüche auf ihn geltend zu machen. Wenn Sie aber den Rechtsweg betreten und auf die gesetzliche Bestrafung des Leichtsinnigen wegen Bigamie antragen wollen, wenn Sie anfangen, Ihren Jrrthum einzusehen und von dein Betrüger, den Sie geheirathet haben sich abwenden wollen, bin ich geneigt, Ihnen meinen Bestand wieder zu leihen." Harrington hatte diesem Wortschwall mit der größten Ruhe und Anfmerksamkeit zugehört, da ihm derselbe Licht in jene dunkle Geschichte brachte, welche Ferdinand Brander ihm in der stürmischen Nacht auf dem Schiffe, kurz vor dem Schiffbruch erzählte. Also sind Sie Roderich Gildon, der Vater Ferdinand Branders! rief er verwundert. „Ich Habs schon früher von Ihnen gehört. Ihr Sohn, Mr. Gildon, ist zu Harrington Hall unter einem angenom menen Namen. Mein Name ist Guido Harrington." Gildon kam nun ganz außer Fassung. „Sie sind nicht Ferdinand Brander?" fragte er in höchster Ver wirrung. „Zum Glück nicht!" antwortete Guido stolz. „Ich bin der Sohn Sir Harry Harringtons, Ihr Sohn aber, Mr. Gildon, ist zu Har rington Hall an meiner Stelle. Er glaubte, daß ich lebenslänglich blödsinnig sein würde und hat meinen Namen und meinen Platz als den seinigen angenommen." Einige Minuten saß Gildon schweigend da; die Bitterkeit der unerwarteten Wendung der Dinge lastete so schwer auf ihm, daß er zu erliegen drohte. Nelly war für iinmer aus seinem Bereich, Fer dinand Brander war in Gefahr, von dem Gesetz ereilt zu werden, und er hatte sich als Vater desselben bekannt, also mußte sein Fall auch ihn treffen und sein Name mit Schmach und Schande bedeckt werden. Er überlegte dies Alles rasch und war entschlossen, den Weg der Versöhnung einzuschlagen. Er erhob seine Augen und blickte unruhig von Nelly zu Guido und von Diesem zu Jener, indem er daun zögernd sagte: „Nelly, wenn Sie die Vergangenheit vergessen wollen, bin ich dazu bereit. Die Welt braucht unsere geheimen Sorgen nicht zu wissen. Was Brander betrifft, so verlangt es mich, ihn kennen zu lernen, und ich möchte zugegen sein, wenn er seiner Stellung enthoben wird; deshalb ersuche ich Sie, mir zu gestatten, mit Ihnen zu reisen." Weder Guido, noch Nelly tratem diesem Wunsche entgegen, und als sie eine halbe Stnnde später Bleak Top in Begleitung der treuen Jebb's verließen, folgte ihnen Gildon zu Pferde. In Alnham nahmen sie einen Postwagen und setzten ihre Reise nach Alnwick und von dort mit dem Eisenbahnzuge nach Gloucester fort, während Christoph Kipp den Wagen nach Bleak Top zurückbrachte. Gildon nahm in dem Coupee neben dem jungen Paare Platz; und mit demselben Zuge, der die Neuvermählten Harrington Hall zusühren sollte, fuhr auch eine in dunkle Trauer gehüllte Frau — es war eine von tiefer Trauer erfüllte Mutter — Fanny Brander! 49. Kapitel. Zerschmettert. Es mar Weihnachtsmorgen — freundlich schien die Sonne von dem klaren, blauen Himmel und milderte den leichten Frost, welcher die in den letzten Tagen wieder paffirbar gemacht hatte — kurz, es war ein herrlicher Wintermorgen. Die Natur hatte ihr Bestes ge- than, um England ein „fröhliches Weihnachtsfest" zu bereiten. Durch das ganze Land ertönten feierlich die Weinachtsglocken und Arm und reich freuten sich des schönen Festes. . Es war von Alters her Gebrauch zu Harrington Hall gewesen, den Weihnachtstag in würdiger Weise zu begehen, und obwohl die Herzen Sir Harry's und Ella's schwer und sorgenvoll waren, wollten sie doch nicht von dem althergebrachten ehrwürdigen Gebrauch ab- weichen. Zwar waren keine Gäste im Hause, aber reiche Geschenke waren an die Armen zu Ardleigh vertheilt worden, und Ella hatte den Saal mit Guirlanden, Immergrün und Stechpalmen, deren rothe Beeren anmuthig aus dein frischen Grün hervorschimmerten, uus- schmücken kaffen. Gegen neun Uhr an diesem Weihnachtsmorgen fuhr ein Wagen vor den Gasthof in Ardleigh und eine schwarz gekleidete Dame, das Gesicht von einem dunklen Schleier verhüllt, stieg aus und trat in das Haus — es war Fanny Brander. (Fortsetzung folgt.)