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8872 Börsenblatt s. d Dtschn. Buchhandel. Künftig erscheinende Bücher. 177, 3, August IS10. Auszug aus dem Bericht der Kommission, bestehend aus den Lerren Joseph Reinach, Deputierter, Pierre Caron, Archivar an den ^rcluves nationales, Pierre Muret, Professor am Lyzeum von Saint- Luentin, Georges Pages, Doktor der Philosophie, Professor am College Rollin, an den Minister des Auswärtigen. l Lerr Minister, - *** Sie haben uns die Aufgabe anvertraut, im Archiv des Ministeriums des Auswärtigen diejenigen französischen - Dokumente zusammenzustellen und zu veröffentlichen, die sich auf den diplomatischen Ursprung des Krieges von 1870- 1871 - beziehen. Der Bericht, den Sie am 9. März 1907 darüber an den Herrn Präsidenten der Republik gemacht haben, - stellt die Beweggründe dar, die Ihnen diesen Entschluß eingegeben haben. Das Werk, dessen ersten Band wir Ihnen - vorzulegen heute die Ehre haben, befolgt nicht allein den Zweck, die diplomatischen Schriftstücke, deren Kenntnis zu einer - unparteiischen Darstellung des deutsch-französischen Krieges und der Umstände, die ihm vorhergegangenen sind und ihn - vorbereitet haben, für den Gebrauch der Geschichtschreiber zusammenzustellen, es wendet sich ebensowohl an die Negierungen - wie a>l die Völker. Die materiellen und moralischen Folgen der Niederlage liegen noch heute drückend auf uns. Die - Demokratie hat, wie Sie richtig bemerkt haben, ein Recht darauf, die ganze Wahrheit über die Umstände und die - Männer zu kennen, die so schmerzhaft in ihre Geschicke eingegriffen haben. - *** Die Diplomatie des zweiten Kaiserreiches ist viel aufmerksamer, viel vorsichtiger und viel einsichtiger gewesen, als man - für gewöhnlich annimmt. Sie hat sich mit Sorgfalt unterrichtet, hat mit Intelligenz Menschen und Dinge beobachtet. - Mehr als einmal hat sie zur rechten Zeit die Absichten und Hintergedanken fremder Staatsmänner erraten. Sie hat sich - nicht damit begnügt, den Stimmungswechsel der Kanzleien und Höfe zu verfolgen; die tiefgehende Bewegung der deutschen - Nation, die sich damals vollzog, entging ihr nicht, sie sah darin den finsteren Prolog eines großen Dramas. Man suchte - aber Deutschland nach altem Herkommen da, wo es vor fünfzig Jahren gewesen war. ; Die offizielle Diplomatie ist nun leider behindert worden von einer geheimen Diplomatie, die noch sehr ungenau - bekannt ist, deren Wirkung sich aber fast ununterbrochen bemerkbar macht. Und dann ist auch die kaiserliche Politik - nicht nur durch das Interesse Frankreichs geleitet worden, sondern auch durch die Launen der persönlichen Macht. - Der Krieg von 1870 ist direkt aus der Kandidatur eines preußischen Prinzen für den spanischen Thron hervor- - gegangen; sein Ursprung liegt aber viel weiter zurück. Es war nun nicht unsere Aufgabe, uns mit seinem historischen ; Ursprünge zu befassen, den man auf die Kriege der Revolution oder des Kaiserreiches zurückverlegen kann, oder noch - weiter zurück. Die diplomatischen Ursachen der Konflikte, die dem Leben der Völker eine andere Wendung geben, liegen - bedeutend näher, als oie historischen. : Es wird allgemein angenommen, daß man die diplomatischen Ursachen des Krieges von 1870 mit der Frage der - dänischen Herzogtümer in Verbindung setzen müsse. > - < Auf den ersten Blick scheint das Datum vom Dezember 1863, das wir gewählt haben, recht weit von dem Jahre : entfernt, das uns unter allen schrecklich und schmerzlich bleiben wird. Würde es nicht genügen, auf das Jahr zurückzu- - gehen, das einer der in der Tragödie Mitspielenden „Vas verhängnisvolle Jahr" genannt hat, das von Sadowa? Oder ; allerhöchstens auf das diesem vorhergehende Jahr, das des Gasteiner Vertrages und der Zusammenkunft zwischen dem ; Kaiser Napoleon !ll. und Bismarck in Biarritz? Nach reiflicher Überlegung haben wir gefunden, daß weder die all- ; gemeinen Tatsachen noch der diplomatische Feldzug, der zum Kriege von 1870 geführt hat, vollkommen verständlich sein ! würden, wenn wir nicht die weiter zurückliegenden Dokumente der Krisis he^vorholten, die von Stufe zu Stufe zur r Vernichtung des Wiener Vertrages und des Westfälischen Friedens geführt hat. Der Gasteiner Vertrag „war nur ; ein Zwischenspiel"; Österreich und Preußen hatten, „als sie dieses Protokoll Unterzeichneten, sich für die Zukunft die ^ Mittel zum Bruche gesichert" und das „verhängnisvolle" Jahr ist weit weniger 1866, wo der Knoten des Dramas schon : geschürzt war, als 1863, wo es noch von Frankreich abhing, daß die dänische Frage nicht zur deutschen Frage werde. Das ist genau der Punkt, wo die französische Politik die freie und entscheidende Wahl hatte zwischen zwei auseinander gehenden Wegen. Einer der Zeugen, der über diese dunkle Zeit am besten unterrichtet ist, dessen Name sich unter der berühmten Emser Depesche befindet, Abeken, schrieb damals: „Was wird Napoleon tun? Das ist die Frage, die alle anderen beherrscht. Niemand weiß es. Vielleicht weiß er es selbst nicht?" Bismarck dagegen wußte, was er wollte. Er hat eines Tages gesagt: „Ein Staatsmann gleicht einem Reisenden im Walde; er kennt die Richtung seines Weges, weiß aber nicht genau, wo er aus dem Walde herauskommt". Von der dänischen Frage an ist sein Weg deutlich zu erkennen. Sein Vorgehen gegen Dänemark ist nicht nur an und für sich, nach der Meinung von Kennern, das Meister stück seiner Diplomatie, es enthält auch schon im Keime alle seine anderen Unternehmungen. Die nächste Stufe, die er bald darauf selbst einem italienischen Diplomaten angibt, ist „die Vorherrschaft Preußens in Norddeutschland". Wenn nun auch die Frage der Elbherzogtümer ohne Zweifel der Ausgangspunkt der Ereignisse ist, die zun, Kriege von'18/0 geführt haben, so wird das Datum, mit dem wir die dänische Frage beginnen, wohl kaum der Kritik entgehen. Wir haben uns selbst gefragt, ob wir nicht bis zum „Patent" vom 30. März 1863 zurückgehen müßten, durch das Schleswig vom König Friedrich VII. Dänemark einverleibt wurde. Gründe verschiedener Art haben uns darauf verzichten lassen. — Die Ereignisse, die in Deutschland und Dänemark vom 30. März bis zum 24. Dezember 1863 vor sich gingen, wo die Truppen, die mit der Ausführung der „Bundesexekution" beauftragt waren, ihren Einzug in Altona hielten, haben ja sicher einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der europäischen Politik gehabt. Doch hat Frankreich kaum anders wie als Zuschauer der Entwicklung dieser Krise beigewohnt, und als der Kaiser am 4. November, - zehn Tage vor dem Tode des Königs Friedrich VII. seinen Vorschlag zu einem neuen Kongresse in Paris machte, nahm - die dänische Frage in seinen Gedanken nur einen sehr untergeordneten Platz ein. Erregt über das Fehlschlagen seiner - Polnischen Wünsche, verletzt durch den stets geringer werdenden Einfluß, den er aus Italien hatte, müde, in Rom eine ; Garnison zu Hallen, beunruhigt durch die mexikanische Angelegenheit, glaubt er das sich entfernende Glück durch den - Glanz eines Kongresses zurückführen zu können, der unter seinem Vorsitze die Grenzen der Staaten ändern und „die - Grundlage zu einem allgemeinen Frieden" legen sollte. - Der Vorschlag wurde aber sofort von den einen für so phantastisch, von den anderen für so „impertinent gehalten, - daß sein Mißlingen, selbst von denen in Berechnung gezogen, die ihre Zustimmung gegeben hatten, ohne besonderen ! Einfluß auf den Gang der Dinge gewesen ist. - So haben wir uns denn, nicht ohne einiges Bedauern, zum Dezember 1863 entschlossen. — Wir wollen nicht - sagen, daß hier das Drama beginnt; wir sagen nur, daß wir es hier, schon angefangen, aufnehmen, am Vorabende des ß Tages, wo England das Zusammentreten einer Konferenz vorschlägt, um den dänisch-deutschen Konflikt zu regeln.