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„Ah, ich verstehe nun!" „Lerlasse Dich daraus, Lord Temple wird sie mit Freuden auf- nehmen." „Gewiß!" pflichtete Nehnold bei. „Er bereut, wa» er gethan. Ich habe mehrere «riefe »on ihm erhallen. Er bat mich, zu ihm zu kommen; aber ich konnte nicht einsehen, was mein Besuch ihm Gute« dringen sollle." «Hast Du seine Briefe beantwortet." „Ja. Ich schrieb ihm, er sollte nicht daran denken, waS er mir geschrieben, ich hätte eö längst vergessen; aber ich könne ihm keine Hoffnung machen, daß er sie jemals wiedersehen würde." „Thue, wie ich Dir sage. Bringe daS Kind zu ihm; er wird «S freundlich aufnehmen der Mutter wegen. Sage Alice, daß das Kind sicher ist und daß sie es jederzeit sehen kann, und wenn sie daS wünscht, wirst Du wissen, waS Du zu thun hast." „Sie natürlich zu ihren Gatten bringen und sie vereinigen. Der Erfolg mag zweifelhaft sein, denn sie war zu sehr beleidigt." „Ihre Liebe zu ihm wird wiederkehren, wenn sie ihr Kind bei ihm sieht. Ich habe die beste Hoffnung. Noch habe ich Dir mitzu- »heilen, daß ich einen Brief von Harold Gibney erhalten habe." „Was schreibt er?" „Er wird bald kommen, ist sehr höflich und dankt mir, daß ich mich Jenny'S «»genommen habe. Wenn er zurückkommt, wird er für sie sorgen; doch nach dem, was er auö zuverlässiger Quelle von ihr gehört hat, müsse er annehmen, daß sie ihre Ansprüche auf ihn längst verwirkt habe. Inzwischen steht eS in meinem Belieben, sie im Hause meiner Mutter zu behalten." Lindsay machte eine unwillige Bewegung. „Ist daS nicht ein sonderbarer Brief?" „Unter den Umständen nicht. Wahrscheinlich hat er an Lady Harding geschrieben in Betreff seiner Frau, und diese wird ihm wenig Gutes milgelheilt haben. Wenn er erst hier ist, wollen wir ihm den Kopf schon zurechlsetzen. „Hast Du Jenny gesagt, daß er geschrieben hat?" „Kein Wort. Sie wundert sich, daß er nichts von sich hören läßt, aber sie findet hundert Entschuldigungen für sein Schweigen. Solche Liebe und solchen Glauben, wie sie besitzt, lriffl man gewiß selten und es kann nicht auSbleiben, daß sie noch belohnt wird." . »Ich wünsche und hoffe es!" sprach Lindsay aus tiefster Seele. Dann verabschiedete er sich von dem Freunde und eilte nach dem Bahnhof. Als er in Sunbridge ankam, lag das Städtchen bereits in tiefster Nachtruhe, und nur selten ließen sich vereinzelte Tritte hören. Er hatte sich am Bahnhof nach der Adresse der Mr. Stirling'S erkundigt und fand trotz der tiefen Dunkelheit das Haus, in welchem noch die Fenster eines Zimmers der untern Etage erhellt waren. Auf Lindsay'ö Klopfen öffnete Mr. Stirling selbst und bat ihn, in'S Zimmer zu treten. „Sie werden sich einer Dame erinnern, welche vor einiger Zeit ein paar Tage bei Ihnen sich aufhielt," sagte Lindsay, nachdem er sich seines späten Kommens wegen entschuldigt halte, „der Mutter des Kindes, welches bei Ihnen ist." „Ja, Sir." „Sie haben das Kind noch in Ihrem Hause?" „Ja, eS schläft jetzt." „Vielleicht erinnern Sie sich auch noch, daß Ihnen Lady Temple befahl, zu einem Mr. Lindsay zu schicken, wenn MrS. Kernot etwa das Kino von Ihnen nehmen wollte?" „Ja, Sir." „Nun, ich bin Mr. Lindsay — Sie sehen etwas verwundert aus, mein Freund!" „Sie sagten Lady Temple?" „Ganz recht; die Mutter des Kindes ist Lady Temple, und ihr Vater Mr. Thoma« Parsey, dessen Neune Ihnen vielleicht aus dem jüngst beendeten Eheprozeß bekannt ist — ich nehme an, daß Sie von demselben gehört haben." „Gewiß, Sir; die Sache machte hier großes Aufsehen." „Ich wünsch« das Kind mit mir zu nehmen. Morgen wird ein Bote von Lady Harding zu Ihnen kommen, und um etwaige Weit läufigkeiten vorzubeugen, können Sie dem Boten sagen, daß der Vater des Kindes, Thomas Parsey, es hier ermittelt und zu sich genommen hat; dadurch entgehen Sie allen Nachfragen und Vorwürfen von Seiten der früheren Mrö. Kernot." Lindsay'ö freundliches und angenehme« Wesen beseitigte alle noch etwaigen Zweifel Mr. Stirling'S, zumal ihn Lincsäy bat, ihn selbst zu Lord Temple zu begleiten, wohin er das Kinv bringen wollte. Stirling bedauerte, daß das Kind von ihnen genommen werden solle, welches ihnen so lieb geworden, wie ihre eigenen Kinder, und führte dann Lindsay hinauf in die Schlafstube, um ihm Alice'« Tochter zu zeigen. „Sie ist das getrene Abbild ihrer Muller," sagte Neynold, nach dem er das Kind eine Weile mit ernstem Schweigen betrachtet hatte. Am andern Morgen befreundete sich Neynold schnell mit der kleinen Agnes, ging mit ihr in einen Spielivaarenlaven, kaufte ihr Kuchen, Bälle und andere Spielsachen, uno fuhr dann in Begleilung ihres bisherigen Pflegevaters mit ihr nach London — zu Lord Temple. - Dieser hatte seinen Aufenthalt wieder in London genommen, in der Hoffnung, hier eine Wiedervereinigung mit Alice zu ermöglichen. Er hatte seine Kräfte überschätzt, sein Herz falsch beurtheilt, als er glaubte, eine Trennung von ihr ertragen zu können. Er bereute schmerzlich, sie durch seine Zweifel von sich getrieben zu haben. Er verfiel wieder in seine alte Abneigung gegen die Menschen und lebte in der größten Abgeschlossenheit. Er empfing Niemanden, außer seinen Arzt, welcher ihm dringend eine Reise nach dem Eonlinenl anrieht. Lord Temple aber weigerte sich diesen entschieden; ohne Alice war ihm diese Welt eine Einöde. Eines Nachmittags saß er in seinem Zimmer, in Betrachtungen über die Vergangenheit versunken. Er gedachte des Tages, als die Ruhe seines Lebens durch den Brief seines Freundes Sherwin so plötzlich unterbrochen wurde, er vergegenwärtigte sich die Scene, wie er Alice zum ersten Male in dem Häuschen ihrer alten Tante ge sehen, mit dem lieblichen Gesicht und dessen melancholischen Ausdruck; dann rief er all' die schönen, glücklichen Tage in sein Gedächtniß zurück, welche er mit ihr verlebt. Wie hatte ihr heiteres Antlitz, gleich klarem Sonnenschein, sein trübes Dasein erhellt, wie hatte ihre Gegenwart, ihre kindliche Anhänglichkeit ibn zu einem ganz andern Menschen gemacht! Wie hatte ihre Liebe ihn beglückt! — Und nun? Ein schwerer Seufzer entrang sich seiner bewegten Brust. „Und nun!" murmelte er. „Selbst wenn eS dem Himmel ge fiele, sie mir zurückzugeben, könnten wir doch nie wieder einander sein, was wir uns waren. Ich möchte am liebsten sterben, vielleicht käme sie in meiner letzten Stunde noch einmal zu mir!" Er hörte ein Klopfen an die HauSthür und zog die Klingel, worauf Walker erschien. „Ich bin für Niemanden zn Hause, Wal'ker, ausgenommen für den Arzt," sagte Lord Temple. „Ich wünsche nicht gestört zu werden." Walker zog sich zurück, kam aber bald wieder mit der Meldung: „Es ist Mr. Lindsay, Mylord." „Neynold! Laß' ihn hereinkommen. Er ist willkommen!" (Fortsetzung folgt.) Vermischtes. * Im städtische» Jrrenhause in Berlin spielte sich dieser Tage eine höchst aufregende Scene ab. Eine 70jährige, am Verfolgungs- Wahnsinn leidende Irre erschien plötzlich auf dem 5 Stock hohen Dach des Hauses, das sie durch eine Luke vom Boden aus erreichte. Ein Wärter folgte ihr sie zu retten; jedoch mußte er sie loölassen, wenn er nicht mit ihr in die Tiefe stürzen wollte. Mit Entsetzen sahen die Vorübergehenden von der Straße ans dem Kampf der Irren mit dem Wärter zn; Jedermann glaubte, als die Irre sich mit Gewalt loöriß und in die Tiefe stürzte, daß sie zerschmettert auf dem Straßeu- pflasler liegen bleiben würde, doch dem war glücklicher Weise nicht so. Der Hausvater der Anstalt, ein besonnener Mann, ließ, als er den unvermeidlichen Sturz der Unglücklichen vorhersah, 8 Wärter vor dem Hause antreten, die eine sogenannte „Tnrnerdecke", auSgebreitet an Henkeln, in den Händen hielten und darin die Irre bei ihrem Stnrze auffingen. Auch nicht ein Haar war ihr gekrümmt. Den Boden halte die Irre dadurch zu erreichen vermocht, daß gerade Bedienstete dort mit Wäschetrocknen beschäftigt waren uno die Bodenlhür in Folge dessen offen stand. Die Unglückliche wußte weder von ihrem Sturze, noch daß sie überhaupt auf dem Dache gewesen war, sie klagte nur wie sonst über die Menschen, die sie überall verfolgten. * Eine Thomaökiste. Aus Hamburg, 9. Juli, wird berichtet: Heute Morgen gegen 5 Uhr fand die Frau des TodtengräberS Wind wehen auf dem St. Jakobikirchhof eine kleine, in Zeitungspapier ge hüllte Kiste, die von unbekannter Hand dort hingestellt sein mußte. Vermulhenv, daß es sich um den nicht seltenen Fall der Auüietzung eines früh geborenen Kindes handle, beorderte sie kaö Dienstmädchen, die Kiste nach dem Garten zu tragen. Bei ihrer Zurückkunsi meldete daö Mädchen, daß auf der Kiste etwas geschrieben stände, woraus Frau Windwehen sich nach dem Garten verfügte. Ans die Kiste war ein Zettel geklebt, folgende Inschrift enthaltend: „Lieber Karl! Bei meiner Durchreise übersende ich Dir eine kleine Ueberraschuug. Brief folgt nach. Dein Heinrich." Frau W. rief ihren 20jährigen Sohu Karl Florenz hinzu, der die Kiste in das Treibhaus nahm, um sie dort zu öffnen. Die Kiste war mit einem Tan kreuzweise zusammen- gebunden, durch den Deckel unv das linke Seitenbret waren zwei große Nägel geschlagen. Der junge Mann, nichts Böse« ahnend, löste das Tau von der Kiste, als plötzlich eine furchtbare Explosion statl- fand, dergestalt, daß das Dach des Treibhauses und alle Fenster desselben zertrümmert wurden. Der junge Windwehen selbst erlitt sehr erhebliche Verletzungen, die, wenn auch nicht töctlich, doch den allgemein geachteten Jüngling arbeitsunfähig machen. Die Kiste ent hielt einen einer Pistole ähnlichen Apparat, Pulver und Hagel. Ucber die technische Konstruktion fehlen bis jetzt noch weitere Angaben, ebenso fehlt jede Kunde über die Persönlichkeit des Attentäters.