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12« 8. Juni ISIS. Nichtamtlicher Teil. VSrtenblaU t- b. Tlschn Vuchhandel. 67«? ich nur mein Handgepäck bei mir und hatte meine Muster kollektionen schon von Paris aus direkt an einen Petersburger Geschäftsfreund adressieren lassen. Auch im Patz hatte ich vorsichtshalber Studien statt Geschäfte als Zweck der Reise angegeben. In Rußland ist alles ungeheuer; die riesigen Entfernun gen im Lande selbst, die Distanzen in den Städten, die Breite und fast endlose Länge der Straßen, die massive Größe der Häuser, die weniger durch architektonische Schönheit, als durch ihre Dimensionen imponieren, die Preise im Hotel, sowie der Überfluß an dienstbaren Geistern und deren Vorliebe für Trinkgelder, aber auch — Inst not Isast — die Bestellungen Es kommen Aufträge von 15 000 Frcs. und darüber vor. Das Reisen in Rußland ist angenehm, wenn man sich über manch mal 24stündige Eisenbahnfahrten und das tätliche Einerlei der Landschaft hinwegsetzen kann, — die Hotels, wenigstens in den großen Städten, sind mit allem modernen Komfort ein gerichtet, allerdings auch entsprechend teuer. Und wenn man nach einem anstrengenden Geschäftstag am nächsten Morgen erwacht, so erinnert einen nur das Heiligenbild in der Ecke, das in keinem russischen Zimmer fehlen darf, daran, daß man sich in Rußland befindet. In Provinzstädten ändert sich dies Bild allerdings — auch der Baedeker warnt vor russischen Provinzhotels —, und man mutz manches mit in den Kauf nehmen, worauf man lieber verzichtet hätte, besonders auch von seiten des Hotel personals, das manchmal noch so unkultiviert ist, vor dem Be treten des Zimmers nicht einmal anzuklopfen, was bei jemand, der, wie ich, ohne Patent reiste, in dem Gedanken an die russi sche Polizei stets einen kräftigen Schreck zur Folge hatte, da diese auch nicht die Gewohnheit hat, zuerst anzuklopfen! Auch die Küche ist, trotz der barbarischen Namen auf der Speise karte und trotz der unbekannten Gerichte, fast durchweg vor züglich. Das erste, was der ausländische Geschäftsreisende in Rußland hört, wie überall anders wahrscheinlich auch, ist nach Überreichung seiner Karte: »Danke, wir brauchen nichts, wir stehen mit allen Verlegern in direkter Verbindung und be ziehen alles, was wir brauchen, direkt.« Wer sich dadurch ab- schrecken läßt, ist verloren, und ebenso derjenige, der nicht noch einige Ausnahmebedingungen in der Tasche hat. Nur dadurch kann er den spröden Sortimenter locken und seinen Appetit auf größere Aufträge reizen. Kommt man mit dem Mann in ein Gespräch, so zeigt sich, daß seine Zeit gar nicht so furcht bar knapp ist, und nicht selten wird eine Einladung zu einem solennen Frühstück, das sich bis in den Nachmittag hineinzu ziehen pflegt, ganz gern angenommen. Und das ist eigentlich der schwierigste Punkt beim Reisen in Rußland, daß nämlich bei jedem größeren Geschäftsabschluß getrunken werden muß in einer Weise, der der Westeuropäer kaum gewachsen ist. Im übrigen ist der Russe, soweit er nicht Jude ist, nicht gerade ein hervorragender Geschäftsmann. Aber wenn man ihn näher kennt, wenn man die Eigenart seines Geschäfts beobach tet und ihn auf verschiedene im Ausland gebräuchliche Ver triebsorten aufmerksam macht, so ist er für Winke in dieser Richtung sehr empfänglich. Es gibt in Rußland Sortimente in einer Ausdehnung, von der sich mancher deutsche Verleger Wohl kaum eine richtige Vorstellung macht. Ich habe in ziemlich viele in- und aus ländische Geschäfte hineingesehen, muß aber sagen, daß ich in einzelnen russischen Sortimenten in einer verhältnismäßig stillen Jahreszeit einen Betrieb gefunden habe wie bei uns kaum zu Weihnachten. Eins dieser Sortimente, das aller dings noch drei Filialen hat und Wohl auch an kleinere Wieder verkäufer liefern mag, muß — unübcrtrieben einen Umsatz von Millionen erreichen. In dem Hauptgeschäft ist beispiels weise der Platz so knapp und der Andrang des Publikums so stark, daß an ein ruhiges Blättern oder Aussuchen gar nicht zu denken ist. Eine Sitzgelegenheit fürs Publikum ist z. B. nicht vorhanden und ließe sich bei dem starken Verkehr auch nicht einrichten. Man nennt das gewünschte Buch, geht, wäh rend es eingepackt wird, zur Kasse, gibt den dort empfangenen Kassencoupon dem Verkäufer ab, dann öffnet einem der Ge schäftsboy auch schon die Tür. So geht es vom Morgen bis zuni Abend, da der Petersburger eine einheitliche Mittagszeit nicht kennt. Selbst das Personal nimmt, wie ich hörte, seine Mahlzeiten im Geschäfte selbst ein. Diese Firma, die übrigens — ob mit oder ohne Grund, konnte ich nicht erfahren — im Geruch der Billigkeit und gelinden Schleuderns stehen soll, ist eigentlich weniger ein Sortimentsgeschäft als ein buchhänd lerisches Warenhaus und will, wie der Chef des Hauser mir sagte, auch als solches gellen. Sie sucht ihren Ehrgeiz weni ger darin, schwer verkäufliche wissenschaftliche Werke an den Mann zu bringen, obgleich Bestellungen daraus selbstverständ lich auch gern angenommen werden, und stets das Neueste vom Neuen zu bieten, sondern verlegt sich mehr auf. den Ver trieb verhältnismäßig weniger, aber gutgehender Bücher, die häufig in Hunderten von Exemplaren vorrätig gehalten wer den und die sich bei wichtigen Novitäten auf 1000 und mehr Exemplare steigern mögen, und verkauft nur gegen bar. Nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, allerdings mit fran zösischer Literatur, remittiert diese Firma nur etwa 5—7 Pro zent ihrer Gesamtbezüge, in keinem Falle mehr als 10 Prozent. Disponenden werden nach französischem Gebrauch überhaupt nicht gestellt, sondern etwa sich später vorfindende Werke bei der nächsten Abrechnung mit verrechnet. — Erwähnen möchte ich noch, daß trotz aller Bemühungen der russischen buchhändleri schen Vereine in bezug aus den Ladenpreis wenigstens von Büchern ausländischen Ursprungs eine ziemliche Anarchie zu herrschen scheint. Ein sehr bekanntes französisches Werk, dessen Ladenpreis 5 Frcs. beträgt, wird z. B. in einzelnen Peters burger Sortimenten zu 2 Rubel, in andern zu 2 Rubel 50 Kopeken, in Kiew sogar zu 3 Rubel verkauft. Mit andern Worten, für ein und dasselbe Werk im gleichen Lande eine Preisschwankung von 33 Prozent. Eine weitere Eigentümlichkeit von russischen Sortiments geschäften ist die, daß sie ihr Geschästslokal häufig nicht zu ebener Erde, sondern im ersten Stock haben, etwas, was bei uns heute kein Mensch mehr riskieren würde. Die Firma F. Tastevin, ein großes, rein französisches Sortiment in Moskau, die bekannte deutsch-russische Firma K. L. Nicker in St. Petersburg befinden sich im ersten Stock und sehen von außen nach gar nichts aus, — aber die letztere allein soll an die vierzig Gehilfen beschäftigen. Die Firma Eggers L Cie. in Petersburg hat ihr Geschäftslokal sogar im zweiten Stock, und man hat ziemlich viel Mühe, sie zu finden, aber trotzdem wird ein großer Umsatz erzielt. Im Gegensatz zu dem eben erwähnten buchhändlerischen Warenhaus sind diese Firmen reine Sortimente, in denen das Publikum auf peinlichste Be rücksichtigung seiner literarischen Wünsche rechnen kann. Hier gibt es Platz zum Sitzen, zum ruhigen Blättern, Wählen und Aussuchen. Etwas, was uns bei nnserm heutigem Geschäftsbetrieb allerdings »spanisch« Vorkommen mag, möchte ich als Kurio sum noch erwähnen. Der Russe raucht bekanntlich immer und überall, nicht nur vor und nach dem Essen, sondern sogar wäh rend des Essens, zwischen zwei Gängen. Und so darf es einen nicht wundem, wenn in russischen Sortimenten der bedienende Gehilfe dem Kunden mit der brennenden Zigarre entgegen kommt und auch während des Bedienen? ruhig weiterraucht. Die Weiße Geschäftskatze sitzt unterdessen in majestätischer Ruhe zwischen Feder und Tintenfaß aus dem Pulte eines der Gehilfen oder drängt sich, in der Hoffnung, gestreichelt zu wer« 881«